Mehmet Scholl gibt Stoff: "Der Herr Siegenthaler möge bitte seinen Job machen, morgens liegen bleiben, die anderen zum Training gehen lassen."

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Bordeaux – Als Mehmet Scholl mal losgelegt hatte, war er nicht mehr zu stoppen. Nach dem Elfmeter-Krimi zwischen Deutschland und Italien im EM-Viertelfinale ritt der ARD-Experte vor fast 30 Millionen Zuschauern eine persönliche Attacke. Diesmal hatte er Chefscout Urs Siegenthaler "und Konsorten" als Fehler-Einflüsterer bei Joachim Löw ausgemacht. Und auch der Bundestrainer kam nicht gut weg.

"Der Herr Siegenthaler möge bitte seinen Job machen, morgens liegen bleiben, die anderen zum Training gehen lassen und nicht mit irgendwelchen Ideen kommen", sagte der frühere Nationalspieler, der vor einigen Monaten schon einmal seine Ablehnung gegen "Laptop-Trainer" kundgetan hatte.

Kritik an der Dreierkette

Scholl hielt augenscheinlich die Umstellung auf eine Dreierkette vor dem Italien-Spiel für falsch. Er war der Ansicht, Löw haben sich von seinen Spielbeobachtern um Siegenthaler in dieses Manöver reinquatschen lassen. "Ich weiß nicht, ob es nur Siegenthaler ist, aber Jogi Löw wacht nicht nachts auf und sagt: 'Jetzt hab' ich's: Dreierkette, Dreierkette, Dreierkette".

Löw wusste von diesen Attacken wahrscheinlich noch nichts, als er auf der Pressekonferenz über das Thema sprach. Die Dreierkette gegen Italien spielen zu lassen, sei nach dem Spiel der Italiener gegen Spanien sein "erster Gedanke" gewesen, versicherte er. Seiner also. "Ich weiß, dass über so etwas diskutiert wird. Aber es war dringend notwendig."

Löws Erläuterung klang plausibel. Vereinfacht gesagt: Die Mitte musste dicht sein. Das hat funktioniert. Wobei die Erläuterung auch wieder das Geständnis enthielt: Löw hat sich dem Gegner angepasst.

Die Frage der Automatismen

Ein Fehler, sagt Scholl. "Es geht nicht darum, zu motzen", versicherte er: "Aber warum bringt man eine Mannschaft, die so funktioniert, in so eine Situation?" Er lieferte Beispiele. "2008: angepasst und gegen Spanien verloren. 2010: angepasst an die Spanier – rausgeflogen. 2012 angepasst an die Italiener – rausgeflogen."

Scholl attestierte dem Bundestrainer, immer dann Erfolg zu haben, wenn er auf seine innere Stimme hört, nicht auf die Einflüsterer. Denn "der Clou" sei: "2014 hat Löw ab dem Viertelfinale jede Idee seiner Trainer, seines Stabs ignoriert und der Mannschaft vertraut und ab da mit der gleichen Aufstellung gespielt. So gewinnt man Titel!"

Weltmeister sei Deutschland 2014 geworden, "weil wir die schwachsinnigste Idee aller Zeiten, mit vier Innenverteidigern zu spielen, über Bord geworfen haben. Weil wir ein Gebilde hatten, das durchgelaufen ist. Jetzt haben wir wieder ein Gebilde und müssen dabei bleiben. Das muss das Ziel sein, dass die Automatismen wieder greifen."

Konter von Bierhoff und Siegenthaler

Teammanager Oliver Bierhoff wies in einem Interview auf dfb.tv am Sonntagnachmittag die Vorwürfe Scholls zurück. "Das begleitet uns bei großen Turnieren, dass Experten etwas raushauen. Das macht auch Mehmet Scholl sehr gerne. Das lassen wir zu und es berührt uns nicht. Was uns aber ärgert ist, dass Mehmet die Abläufe bei uns nicht kennt und den gesamten Trainerstab angreift", betonte Bierhoff.

Siegenthaler selbst hat in der der Bild-Zeitung gelassen, aber auch mit Unverständnis reagiert. "Ich weiß nicht, was ich Herrn Scholl getan habe", sagte der 68-jährige Schweizer der Bild-Zeitung: "Vor 1000 Jahren haben die Menschen die Erde auch nicht als Kugel gesehen." Demnach sei Scholl nicht auf der Höhe der Zeit.

Auch "Kaiser" Franz Beckenbauer gab Siegenthaler und Löw Rückendeckung. "Es gehört zum modernen Fußball, dass man mehrere Systeme einsetzt", sagte der frühere DFB-Teamchef: "Es wäre geradezu fahrlässig von Jogi Löw gewesen, sich nicht auf Italien einzustellen." (sid, 4.7.2016)