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2015 wurde die Renovierung der wichtigsten Brücke im ethnisch geteilten Mitrovica im Kosovo gestartet – unterstützt durch die EU.

Foto: APA / EPA / Vadrin Xhemaj

Niemand hatte behauptet, der Westbalkan-Gipfel von Paris komme zur passenden Zeit. Zehn Tage nach dem britischen Nein zur EU trafen einander Vertreter von Albanien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro und Serbien in der französischen Hauptstadt mit Vertretern der EU-Mitglieder Deutschland, Italien, Kroatien, Österreich und Slowenien. Doch wozu? Nach dem Auftakt von Berlin im Jahr 2014 und der Folgekonferenz von Wien war in Paris nichts mehr von Aufbruchstimmung zu spüren. Ausgesprochen oder nicht, dominierte nur ein Thema: die Folgen des britischen Brexit-Entscheids, oder anders gesagt: die seither viel diskutierte "Erweiterungsmüdigkeit" der Europäer.

Kern: Nicht unser Hinterhof, sondern unser Wohnzimmer

Umso vehementer beteuern EU-Vertreter den Willen zur Annäherung des Westbalkans. Erweiterungskommissar Johannes Hahn erklärte am Montag der STANDARD, er glaube "nicht, dass das Ausscheiden Großbritanniens negative Konsequenzen für die Erweiterung" haben werde. Konferenzgastgeber François Hollande erklärte im Anschluss der Konferenz, die Annäherung der Balkanstaaten an die EU werde durch die Brexit-Frage nicht in Frage gestellt: "Der Prozess geht weiter."

Bundeskanzler Christian Kern meinte zum STANDARD seinerseits, unter den EU-Mitgliedern Deutschland, Frankreich und Österreich herrsche Einigkeit, dass der Brexit die Balkanfrage nicht betreffe. "Das Wichtigste ist die Stabilität in der Region, und darauf darf der Entscheid Grossbritanniens keinen Einfluss haben." Kern hob die Bedeutung von Wirtschafts- und Infrastrukturmaßnahmen für den Westbalkan hervor. "Das angeschlagene Tempo kann uns nicht befriedigen", meinte der Kanzler diesbezüglich. "Wir können uns keine Unsicherheit in dieser Region leisten, denn das findet nicht in unserem Hinterhof statt, sondern in unserem Wohnzimmer."

Kurz für glaubwürdige EU-Perspektive

Außenminister Sebastian Kurz erklärte am Rande des Pariser Gipfeltreffens, Österreich sei mit der betroffenen Region "menschlich, kulturell, wirtschaftlich und politisch sehr eng verbunden"; eine Verbesserung der Lebensbedingungen, mehr Stabilität, Sicherheit und Wohlstand am Westbalkan seien daher auch aus Wiener Sicht wichtig. "Eine glaubwürdige EU-Perspektive für die Länder des Westbalkans ist und bleibt für Österreich von großer Bedeutung", betonte Kurz.

"Der Berlin-Prozess, bei dem sich Österreich weiterhin stark engagiert, dient genau unseren Zielen. Grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte, die Beilegung bilateraler Konflikte, zu der wir im April eine Konferenz auf Ministerebene in Wien organisiert haben, Wirtschaftswachstum, Jugendbeschäftigung, Kampf gegen Radikalisierung, die Bewältigung der Migrations- und Flüchtlingskrise oder die Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft sind nur einige der uns wichtigen Schwerpunkte".

Wenig Glaube an Union in Südosteuropa

Laut Gastgeber François Hollande hatte die Konferenz zwei konkrete Ziele, nämlich die Ankoppelung der Region an europäische Energiestränge sowie die Schaffung eines regionalen Jugendwerks nach deutsch-französischem Vorbild. Er erklärte weiter, an der Konferenz seien auch die Themen Flüchtlinge und Terrorismus zur Sprache gekommen. Konkrete Beschlüsse gebe es zur Ankoppelung der Region an europäische Energiestränge sowie der Schaffung eines regionalen Jugendwerks. Das "Versprechen von Thessaloniki", mit dem die EU 2003 den Balkan-Sechs die Mitgliedschaft offiziell in Aussicht gestellt hatte, fehlte jedoch auf der Tagesordnung.

Ein großer Teil der Bürger in Südosteuropa glaubt ohnehin nicht mehr daran, dass der EU-Beitritt realistisch ist. Und viele lokale Politiker wollen ihn auch gar nicht – zumal sie durch mehr Rechtsstaatlichkeit und Transparenz an Macht verlieren würden. Weil die Jungen und die Gebildeten ins Ausland gehen, bleiben leichter zu manipulierende "Systemerhalter" zurück. Die daraus folgende Überalterung wird dramatische Auswirkungen haben. Im Jahr 2060 werden den UN zufolge in der Region zehn arbeitende Menschen im Durchschnitt 7,6 ökonomisch Abhängige erhalten müssen – heute erhalten sie im Durchschnitt nur zwei Personen. (Stefan Brändle aus Paris Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 5.7.2016)