Bis aus umgestürzten Bäumen wieder Erde wird, dauert es mehrere Jahrhunderte.

Foto: Wildnisgebiet Dürrenstein

In Urwäldern übernimmt das Totholz wichtige Funktionen als Wasserspeicher, Wurzelblatt für junge Bäume oder Unterschlupf für Salamander.

Foto: Wildnisgebiet Dürrenstein

Wien – Der Geländewagen stoppt. Reinhard Pekny steigt aus, greift nach dem Salamander vor den Rädern und entlässt ihn in den angrenzenden Wald. Die Prozedur wiederholt sich auf der kurzen Fahrt über die verschlungenen Waldwege im Schatten des Dürrensteins im Süden Niederösterreichs wieder und wieder. Lebendgebärende Alpensalamander vermehren sich langsam, wird er später erklären, ein Weibchen bringt alle zwei bis vier Jahre zwei Junge zur Welt. Die Häufigkeit der Tiere ist Zeichen für die Naturnähe eines Waldes. Und hier, nahe des größten Urwaldgebiets der Alpen, gibt es besonders viele.

Pekny ist Forstmann und früherer Wildtierforscher. Er kümmert sich als Teil der Schutzgebietsverwaltung als Ranger und Naturraummanager um das Wildnisgebiet Dürrenstein. In den Wäldern zwischen Göstling, Ötscher und der steirischen Grenze hat eine Reihe von Zufällen dafür gesorgt, dass einige Hundert Hektar Naturwald bestehen blieben. Seit seinem Entstehen nach der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren gab es keine größeren Eingriffe durch Menschen. "Es ist das wertvollste, das wir haben", sagt Pekny.

Unattraktive Kessellage als Chance

Die Kartause Gaming und das Stift Admont haben hier Jahrhunderte lang um die Grenzziehung gestritten. In einer Zeit, als das Holz die Hänge hinuntergeschlagen und in Bächen getriftet wurde, war die Kessellage des Waldes unattraktiv. Dann begünstigten fossile Brennstoffe, die Holzkohle als Energieträger ablösten, das Überleben. Im späten 19. Jahrhundert verbot der Eigentümer Albert Rothschild, inspiriert von der Naturromantik seiner Zeit, die Bewirtschaftung. Nachdem es zum Naturschutzgebiet wurde, schuf man ab 1997 im Rahmen eines EU-Projekts ein Wildnisgebiet nach den strengen Kriterien der Weltnaturschutzunion IUCN, das auch umliegende Wälder umfasst. Mehr als 90 Millionen Schilling wurde damals zur Ablöse von Nutzungen abgegolten.

Seltene Flechten auf alten Bäumen

Bei einer Wanderung mit dem Ranger durch die Wildnis zeigt sich, was man damit gewinnt. Die Fichten, Tannen und Buchen werden hier nicht nach 80 Jahren zu Brettern verarbeitet. Sie haben eine Lebenserwartung von 600 Jahren, manche werden 1000 Jahre alt. "Bei 400-Jährigen tauchen Algen, Flechten und Insekten auf, die es sonst nicht gibt", erläutert Pekny. An einer Buche findet man bis zu 30 Flechtenarten.

Bis ein toter Baum umfällt, dauert es 100, bis er dann zu Erde wird, weitere 300 Jahre. Das Totholz übernimmt vielfältige Aufgaben im Ökosystem. Fast alle jungen Fichten wurzeln auf toten Riesen, um im Frühjahr schnell aus dem Schnee zu kommen. Totholz saugt Wasser auf wie ein Schwamm und gibt es langsam wieder ab. Nährstoffe werden nicht weggeschwemmt. Fehlen die Wasserspeicher, hat das Folgen. "Hochwasserschutz beginnt im Wald, nicht mit Schutzbauten an der Donau", so Pekny.

Die Urwaldökologie wird in vielen Projekten beforscht. So wurde auf einem Hektar Wald etwa die Vegetation vermessen und jeder Baum nummeriert. Die Störungsforschung untersucht etwa, wie der Wald auf Lücken durch Windschlag reagiert. "Manche schließen sich vom Rand her, manche vom Boden aus, manche werden größer", erklärt Pekny. Ein junges Projekt widmet sich dem Alpenschneehuhn. Steigt die Baumgrenze durch den Klimawandel, könnte es wie Murmeltier und andere Spezies hier verschwinden.

Spürbarer Klimawandel

Eine bereits offensichtliche Klimawandelfolge ist die Ausbreitung des Borkenkäfers in höhere Lagen. Im Wirtschaftswald ein Schädling, wird er hier als Organismus wie jeder andere gesehen. Sind die Kommunikationsnetze unter der Erde intakt wappnet sich die Umgebung, wenn ein Baum befallen wurde.

Ein Indikator für die Naturnähe ist die Verteilung der Pilze, die als zersetzende, symbiotische oder parasitäre Organismen Teil des Waldökosystems sind. "Im Wirtschaftswald bleiben oft nur Parasiten über", so Pekny. Von der Urwaldökologie könne die Forstwirtschaft viel lernen.

In einem Naturwald haben neue Spezies, die aufgrund des Klimawandels einwandern, weniger Chancen. "Neophyten tun sich schwer, wenn jede Nische besetzt ist. Viel leichter haben sie es in von Menschen überprägten Naturräumen", sagt Pekny. "Vielfalt sorgt für Stabilität im Ökosystem, was letzten Endes auch Voraussetzung für höheres Leben ist." Naturschutz sei deshalb vor allem für den Menschen selbst wichtig.

Föderalismus als Bremse

Pekny hat noch viele Geschichten über Fauna und Flora auf Lager: Vom Frauenschuh, der größten heimischen Orchidee, die trotz strengem Schutz oft ausgegraben wird, was "nicht nur illegal, sondern auch sinnlos" ist, weil sie ihren Pilzsymbionten im Garten nicht finden wird. Vom äußerst giftigen Alpeneisenhut, auch "Erbschaftskraut" genannt. Oder von der Kreuzotter am Wegesrand, die er schon so oft gesehen hat, dass sie einen Namen trägt. Sie heißt Thusnelda.

3500 Hektar ist das Wildnisgebiet nun groß. Und es wächst. Bis Herbst könnte die Entscheidung über eine Flächenverdoppelung fallen, die ein Gebiet auf der steirischen Seite miteinschließt. Eine der größten Hürden dabei: der Förderalismus. Ein Wildnisgebiet in zwei Bundesländern – das sei für die Bürokratie durchaus eine Herausforderung. (Alois Pumhösel, 7.7.2016)