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Erst kürzlich identifizierte Opfer des Massakers von Srebrenica werden am Montag auf einem Gedenkfriedhof in dem bosnischen Ort Potocari beigesetzt.

Foto: REUTERS/Dado Ruvic

Die Suljagićs brachen am 13. Mai 1992 aus dem Dorf Vojavica auf, das direkt an der Drina liegt, und brauchten bis zum 31. Mai, um nach Srebrenica zu kommen, obwohl die Stadt nur etwa 15 Kilometer entfernt liegt. Denn 15 Kilometer sind eine Weltreise, wenn man nichts zu essen hat und sich vor potenziellen Mördern verstecken muss. "Allein durch die Frontlinie zu kommen hat Tage gedauert", erzählt Emir Suljagić. Manche Menschen hätten die Flüchtenden in ihre Heime gelassen. "Oft waren in einem Haus 100 Leute", erzählt er. "Ich bin einmal mit drei anderen in einem Bett aufgewacht."

Die Nachbarn hatten den Suljagićs geraten, sich den bosnisch-serbischen Militärs zu stellen. Doch der Vater traute diesem Rat nicht. "Ich habe ihm deshalb mein Leben zu verdanken. Die, die geblieben waren, wurden alle hingerichtet", sagt Suljagić. Kriminelle, die in Serbien aus dem Gefängnis entlassen worden waren, und Freischärler hatten im Frühjahr 1992 begonnen, das Drina-Tal ethnisch zu säubern und alle Nichtserben entweder zu vertreiben oder zu ermorden.

Schaffung Großserbiens als Ziel

Laut dem Bosnischen Totenbuch wurden im Drina-Tal 28.135 Menschen getötet, das entspricht 29,3 Prozent aller Toten des Bosnien-Kriegs. Von diesen Toten waren 80 Prozent Menschen mit "muslimischen Namen", nämlich 22.472. Und davon waren wiederum 15.400 Zivilisten, also 68,5 Prozent. Sie wurden alleine deshalb ermordet, weil sie als Muslime galten. Manche von ihnen waren nicht religiös. Den Nationalisten ging es darum, eine Region zu "säubern", die ohne die Nichtserben an den Nachbarstaat angeschlossen werden sollte, um Großserbien zu schaffen.

Heute wird oft vergessen, dass man ohne die "ethnischen" Säuberungen und Vertreibungen im Jahr 1992 im Drina-Tal nicht verstehen kann, was im Juli 1995 in und rund um Srebrenica geschah. Denn der Genozid in Srebrenica 1995 war der Abschluss der vorhergehenden Verbrechen. Die Menschen, die ihm zum Opfer fielen, waren zwei, drei Jahre zuvor aus den Dörfern rundherum nach Srebrenica geflohen. Suljagić irritiert, dass heute nur mehr über den Juli 1995 gesprochen und das Gedenken an das Massaker zunehmend instrumentalisiert wird. Der Mann, der die NGO-Koalition "1. März" mitbegründet hat und zwischenzeitlich als Politiker aktiv war, will heuer nicht einmal mehr zur Gedenkveranstaltung kommen.

Srebrenica wurde zum Flüchtlingslager

Tausende Menschen suchten im Frühjahr 1992 Zuflucht in Srebrenica, weil sie im Radio gehört hatten, dass die Stadt von der bosnischen Armee befreit worden sei. Viele kamen durch die Wälder. "Uns hat ein 17-Jähriger geführt, der selbst keine Ahnung hatte", erinnert sich Suljagić. "Als wir ankamen, war die Stadt leer, es regnete, und der Geruch der niedergebrannten Häuser lag in der Luft." Die Einwohner waren bereits fort. Srebrenica wurde zu einem Flüchtlingslager. Der Hunger begann im Juni 1992. Emirs Mutter sammelte Schwarzbeeren. "Eine Woche aßen wir ausschließlich diese Früchte." Die Flüchtlinge versuchten immer wieder, die Frontlinie zu überqueren, um in die umliegenden Dörfer zu gelangen und dort Essen zu organisieren. Doch das war nur bis 1993 möglich, danach konnte man die Stadt nicht mehr verlassen.

Wer Zugang zu lebensnotwendigen Dingen hatte, hatte die besseren Chancen. Der 17-jährige Emir verkaufte Zündholzschachteln. "Für zehn Schachteln bekam ich zehn Eier. Das war kein schlechter Deal." Emir lernte zu überleben. Doch im August 1992 gab es endgültig nichts mehr zu essen. Die Familie flüchtete noch einmal zu den Großeltern, in das Dorf Osmače. Der Vater ging zurück an die Frontlinie, um Essen zu besorgen. Im Dezember 1992 kam er von dort nicht mehr zurück. Im Februar 1993 wurde auch Osmače erobert – die Mutter und die beiden Kinder mussten zurück nach Srebrenica.

"Keine Autoritäten, kein Gesetz, keine Ordnung"

Die Zehntausenden, die sich damals in der Stadt angesammelt hatten, kannten einander meist nicht. Sie lebten unter fremden Dächern und schliefen in fremden Betten. "In der Stadt herrschte Anarchie. In Srebrenica sah es wie im 'Mad Max'-Film aus", erzählt Suljagić über das postapokalyptische Szenario. "Es gab keinerlei Autoritäten, es gab kein Gesetz und keine Ordnung." Anders als in Sarajevo, wo das Gemeinschaftsgefühl das Überleben in der belagerten Stadt erleichterte, bildete sich in Srebrenica keine Solidarität. "Wir waren wie atomisierte Individuen, jeder schaute nur auf sich selbst", erinnert sich Suljagić. Nachdem die Uno Srebrenica im April 1993 zum "sicheren Gebiet" erklärt hatte, gab es wenigstens Nahrung.

Ein System von Günstlingswirtschaft entwickelte sich. An Essen, Brennstoff, Kleidung und Medizin gelangte man vor allem über Beziehungen. Wenn die Transporter mit dem Essen der Uno in die Stadt kamen, bedienten sich zunächst die Soldaten der bosnischen Armee, angeführt vom damaligen Kommandanten Srebrenicas, Naser Orić, der bedenklicherweise später zum Nationalhelden stilisiert wurde.

"Krieg ist vor allem Langeweile"

Einer der Lastwagenfahrer, die Srebrenica versorgten, stammte aus dem Heimatdorf der Suljagićs. Er war bereit, der Familie einen Gefallen zu tun. Mutter und Schwester wurden von dem Fahrer "eine mit der linken, die andere mit der rechten Hand" auf den Wagen gehievt, der sie in die Freiheit nach Tuzla brachte. Emir blieb allein in der Stadt. Und Emir war fad. "Krieg ist vor allem Langeweile", meint er heute. Er fand ein englisch-serbokroatisches Wörterbuch und lernte jedes Wort auswendig, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er die Vokabeln auf Englisch aussprechen sollte. "Aber ich war ein Streber", sagt er.

Die Mühe lohnte sich. Der junge Suljagić wurde von der Uno als Übersetzer angestellt. "Ich war einer, der Glück hatte." Diesen Satz sagt Suljagić oft. Am Anfang habe er mehr als lausig übersetzt, vor allem die Abkürzungen, die "die Internationals" verwendeten, seien ihm fremd gewesen. Doch nun bekam er Dosen mit Essen: Proteine. Schokolade. Emir wurde satt. "Vielleicht bin ich einer jener Menschen auf dieser Welt, die am meisten Glück hatten." Er nimmt ein Stück Papier, um zu veranschaulichen, wie dünn der Abstand war, der damals sein Leben von seinem möglichen Tod trennte.

Weil er als Übersetzer arbeitete, musste er zuweilen an die Frontlinie zu der "gelben Brücke", wo die bosnisch-serbischen Soldaten standen. Einige Leute erkannten ihn, weil er vor dem Krieg zu einem bekannte Basketballteam gehört hatte. Ein ehemaliger Mitschüler sah ihn: "Was machst du, Bruder?", sagte er und klopfte Emir auf die Schulter. Suljagić hatte panische Angst, und doch waren ihm manche Leute vertraut. An der gelben Brücke traf er auch auf Momir Nikolić, einen der militärisch Verantwortlichen der Bratunac-Brigade, die später den Völkermord durchführte.

"Hausgemachter Genozid"

Als der Kommandant der bosnischen Armee, Naser Orić, die Stadt im Frühjahr 1995 verließ, wusste Suljagić, dass "das das Ende der Enklave" war. Nachdem bosnisch-serbische Soldaten unter Ratko Mladić Anfang Juli die Stadt erobert hatten, flüchteten die Menschen. Eine Kolonne mit 15.000 Menschen wurde auf dem Weg nach Tuzla immer wieder beschossen, die Menschen wurden wie Tiere durch die Wälder gejagt. Eine andere Gruppe bewegte sich ins UN-Camp nach Potočari, unweit der Stadt. Im nahe gelegenen Ort Bratunac warteten zu diesem Zeitpunkt bereits Busse.

Nachdem Männer von Frauen getrennt worden waren, mussten manche der Männer eine Nacht in den Bussen warten, bevor sie erschossen wurden. Anrainer wurden aufgerufen, die Transporte in der Nacht mit "Gewehren zu schützen". "Die Komplizenschaft war omnipräsent", sagt Suljagić. "Ab dem 11. Juli wussten alle in der Gegend, was passiert." Eine Sondereinheit aus Bijeljina und eine Spezialeinheit der Polizei waren hinzugezogen worden. "Aber hauptsächlich waren es die Leute von der Brigade von Bratunac und Zvornik, die die Menschen erschossen", so Suljagić. "Es war ein hausgemachter Genozid."

Zum Teil keine Konsequenzen

Suljagić kennt zwei Männer, die an dem Verbrechen beteiligt waren, aber bis heute in der Region leben – ohne jemals angeklagt worden zu sein. Weil sie als Zeugen in anderen Fällen ausgesagt haben, darf er ihre Namen nicht nennen, andernfalls würde er sich strafbar machen. Suljagić selbst hat den Genozid überlebt, weil er für die Uno als Übersetzer tätig war, so wie Hasan Nuhanović.

Momir Nikolić von der Bratunac-Brigade kam während des Massenmords zu den bosnischen UN-Übersetzern nach Potočari und erkundigte sich, wo Nuhanovićs Eltern und sein Bruder geblieben seien. Sie waren in die Busse verhievt worden, obwohl Nuhanović die niederländischen UN-Vertreter gebeten hatte, die Mutter, den Vater und den Bruder in Sicherheit zu bringen. Alle drei wurden ermordet. Das Beispiel Nuhanović zeigt, dass auch einige Frauen Opfer des Genozids wurden. Nikolić war übrigens einer der wenigen, die sich später vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag für schuldig erklärten. 2003 sagte auch Suljagić vor dem Gericht aus. Als er in den Saal kam, winkte Nikolić ihm zu. "Ich habe zurückgewunken", erzählt er. Er wisse selbst nicht genau, weshalb er das tat. Der Verbrecher, das potenzielle Opfer, der Tod, das Leben, alle waren sie Nachbarn in Srebrenica. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 11.7.2016)