Die Helfer in der Flüchtlingskrise zählen im Weltbild der Rechtspopulisten zu den "inneren Feinden".

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Aus soziologischer Perspektive leben wir mit dem Niedergang der beiden großparteilichen Identitäten in Österreich – sozialdemokratisch und christlich-konservativ – in einem Zeitalter des permanenten Vergleichs. Egal, welcher Tätigkeit wir nachgehen: Auf unsere gesellschaftliche Position schließen wir, indem wir uns selbst mit anderen vergleichen: im Hinblick auf Bildungsgrad, Einkommen, Nachbarschaft, die Anzahl der Rasenmäher, Hausanbau oder die geparkten Autos vor der Garage.

Damit geht das dumpfe Gefühl einher, immer ein wenig benachteiligt und abgehängt zu sein, denn es findet sich immer jemand, dem oder der es im Vergleich wirklich prächtig geht. Und so fragen wir uns, womit andere ihren Wohlstand eigentlich "verdient" haben. Die populistische Rechte in Europa und die FPÖ in Österreich hat sich diese Denkweise zu Herzen genommen. So rüttelt sie beispielsweise am Prinzip des Universalismus des Wohlfahrtsstaates, in dem sie viele staatlichen Leistungen nur für solche Gruppen reservieren will, es die es angeblich wirklich "verdient" haben.

Positionsbestimmung und Loyalitätstest

Nun erklärt allerdings so eine Rhetorik noch nicht den Aufschwung rechtspopulistischer Parteien. Eine derartige Debatte über den Wohlfahrtsstaat gibt es zum Beispiel in den USA schon seit rund einem Jahrhundert. Dort wurden anfangs auch nur Soldaten und Mütter als legitime Empfänger von Sozialleistungen anerkannt. Immigranten hatten es in solchen nicht-universalen Systemen immer schon denkbar schwer, die Öffentlichkeit von ihren "Verdiensten", also ihrer Glaubwürdigkeit, zu überzeugen.

In dem Moment aber, in dem Deutungselemente des Vergleichs und des Verdienstes an ein umspannendes Narrativ des Verrats gekoppelt werden, verändert das den gesamten politischen Diskurs nachhaltig. Der Vorwurf des Verrats ist moralisch und damit vorpolitisch, er spielt auf einen willentlichen Bruch mit einem bestehenden Pakt oder einer engen Verbindung in der Vergangenheit an. Er ist im Kern ein Loyalitätstest: Willst du, als Verräter, nicht nur deine Mitgliedschaft in unserem Bund verschmähen, sondern nimmst du damit auch noch in Kauf, uns allen zu schaden? Der Verrat ist eine Positionsbestimmung: Wer sich, vereinzelt und selbstinteressiert, außerhalb des gemeinsamen Kollektivs stellt, dem kann auch nicht mehr getraut werden. Wo ein Verrat geortet wird, kommt deshalb die Perspektive des interessengeleiteten Aushandelns – oder, mit anderen Worten, der Politik – nur einem neuerlichen Verrat gleich. So gibt es überhaupt nur eine Möglichkeit, damit umzugehen, die der moralischen Reinigung. Die Sprache des Verrats ist also ein Signal, ein Aufruf und eine permanente Mobilisierungsstrategie.

"Innere" und "äußere" Feinde

Ob Flüchtlingspolitik, Bundespräsidentenwahl oder Tabakgesetz – die FPÖ hat mit gleichsam detektivischer Auffassungsgabe den "Verrat" schon in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen erspürt. Ihr Machtanspruch, das "neue politische Zeitalter", beginnt konsequenterweise mit der Abrechnung. Die wahren "Verräter" sind nicht Flüchtlinge oder auch Arbeitsmigranten, sondern die demoralisierte Führungselite. Denn zu einem moralischen Betrug sind ja nur diejenigen fähig, die vorher Teil der gleichen Gemeinschaft waren, nicht jene, die ohnehin kategorisch außen vor sind. Um etwas wahrhaft verraten zu können, muss man vorher daran geglaubt haben. Mit dieser "Adelung" der Position des Verräters, dem Einschwören auf gemeinsame Bande und Versprechungen, ist der rechtspopulistische rhetorische Kniff, dass wir alle tief im Kern ja ganz natürlich einer Vorstellung von Nation, Vaterland und Gesellschaft anhängen sollten (und könnten!), vollzogen. In Anlehnung an Georg Simmel ist es dabei nicht die andere Person, die betrogen wird, sondern das Verhältnis zwischen Personen. Dieses Verhältnis ist die Nation selbst.

Das eigentliche Erfolgsrezept der FPÖ ist deshalb die Karikierung nicht der Flüchtlinge oder Migranten, sondern ihrer korrumpierten Helfer, die, mit Staatsmacht und -geldern ausgestattet, die Nation niederhalten. Das sind die "Staatslinken", "Chaoslinken" und "GrünInnen". Sie sind die "inneren Feinde" im Weltbild der Rechtspopulisten. Die Nuancen der Parteikommunikation gelten ihnen, nicht den "äußeren Feinden". Die Tatsache, dass eine Vorstellung der Zersetzung "von innen" im öffentlichen Diskurs bereits weit verbreitet ist, zeigt, dass die lebhafte Fantasie von Herbert Kickl, Norbert Hofer und Kollegen schon sehr viele Früchte in diesem Land trägt.

"Gesellschaftsreparatur" oder Erlösungsversprechen

Der Verratsvorwurf ist natürlich selbst auch nicht neu im politischen Spektrum. Seit jeher kritisiert auch die Sozialdemokratie die Eliten nicht nur als politisch, sondern auch als moralisch korrumpiert. Hier unterscheidet sich aber die sozialdemokratische von der freiheitlichen Version des Betrugs: Während die sozialdemokratische Version der "Gesellschaftsreparatur" die Grenzen des Möglichen oder Machbaren gegenüber dem Gewollten betont (das ist bekanntlich ihre historische Abgrenzung zum Kommunismus), kommuniziert die rechtspopulistische Sozial- und Wirtschaftspolitik stattdessen permanent ein Erlösungsversprechen. Das beweist der Blick nach Ungarn oder Polen. Dort, wo populistische Kräfte an der Macht sind, wird konsequent das Nachleben der "alten Ordnung" für Unzulänglichkeiten verantwortlich gemacht; damit wird das Erlösungsversprechen immer wieder ein kleines Stück in die Zukunft gerückt.

Obwohl er im Kern eine Kapitalismuskritik ristretto ist, richtet sich der Vorwurf des Verrats mit voller Kraft an vermeintliche Lösungsansätze, die als zum Scheitern verurteilt dargestellt werden – insbesondere gegen die Sozialdemokratie und den Liberalismus. David Schalko hat das Skript des "sozialdemokratischen Verrats" auf den Punkt gebracht. Es ist die Karikatur des Arbeiterkindes, das sozial aufsteigt, sich von seinen bescheidenen, aber ehrlichen Hintergründen verabschiedet und nun damit nichts mehr zu tun haben will. Jemand, der ja nie "in der Wirtschaft gearbeitet hat" und damit seine Glaubwürdigkeit gerade im eigenen, linken Milieu verspielt hat. Der "liberale Verrat" ist noch leichter konstruiert, er braucht einfach nur als kalter Wirtschaftsliberalismus karikiert zu werden. Dabei kann die Bedeutung der liberalen Architektur rund um Menschenwürde, Staatsbürgerschaft, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, die Hannah Arendt ihrem großteils sozialistischen und kommunistischen Publikum immer wieder unter die Nase gerieben hat, einfach ignoriert oder eben als fundamental uneingelöst, als Verrat an sich selbst, als irrelevant vom Tisch gewischt werden.

Was tun gegen das Verratsnarrativ?

Verrat ist ein moralischer Narrativ, der sich verbreiten kann, und kein Persönlichkeitsmerkmal, wie unlängst behauptet wurde. Allerdings bringt die Angst, selbst zum Kreis der "Verräter" gezählt zu werden, Menschen tendenziell dazu, die Interpretations- und Erklärungsvorlage dieses Narrativs zu übernehmen. Und diese Angst wiederum ist bei solchen Personen stark, die ein Bild ihrer selbst als besonders loyal, sozial und gemeinschaftsorientiert pflegen. Wenn die FPÖ "Unsere Leut" schreit, dann fühlen sich damit gerade jene angesprochen, die große Angst davor haben, andere zu enttäuschen.

Vertrauen, das Gegenteil von Verrat, lässt sich nur schwer argumentativ herstellen. Vertrauen gründet sich bekanntlich nicht auf Fakten und Beweise, sondern auf das Fehlen von Gegenbeweisen. Zwei Handlungsmöglichkeiten zeichnen sich jedoch aus soziologischer Perspektive ab.

Zwei Strategien: Gegenerzählung ...

Zunächst gibt es die Gegenerzählung: Dem Erfolg des Verratsnarrativs liegt das Gefühl eines Kontrollverlusts und der Einschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit zugrunde. Das empfinden vor allem jene, die sich abgehängt fühlen von wie immer gearteten Eliten. Das Kontrollszenario der FPÖ ist allerdings selbst ein Verrat an der Demokratie, weil die Partei falsche, plumpe und unrealistische Antworten bietet. Mehr noch als Leichtsinnigkeit ist es eine bewusste Irreführung, die freiheitliche Politiker betreiben: Sie säen Misstrauen, untergraben und zerstören. Damit sind sie selbst für den Kontrollverlust mitverantwortlich.

Für diese Gegenerzählung gibt es reichlich Material – "klassische" Korruption in FPÖ-Reihen, Heuchelei in Bezug auf Österreichs Gewinne durch die EU und Österreichs profitable Rolle in der Osterweiterung, elitäre und antiösterreichische Verstrickungen zwischen FPÖ und deutschnationalen Burschenschaften, fragwürdige Verbindungen nach Moskau, die die europäische Demokratie insgesamt gezielt untergraben, und nicht zuletzt personelle Konvergenz mit rechtsextremen Netzwerken, beispielsweise den sogenannten Identitären.

... und soziale Distanz verringern

Die einzig langfristigere Strategie ist es allerdings, die soziale Distanz zu verringern, die die Verbreitung des Verratsnarrativs ermöglicht. Einzelne gesellschaftliche Milieus und Teilöffentlichkeiten reden aktuell nur mit sich selbst; soziale Medien verstärken diese Tendenz bekannterweise.

Warum sind Menschen in vielen Dörfern Österreichs der Meinung, dass in den Städten Chaos herrscht? Dass Beamte dort komplett überfordert sind, "Staatslinke" die Fremden fördern, terroristische Gefahren kleinreden und ihren dionysischen Aktivitäten nachgehen, statt im Dienste des Kollektivs zu hackeln? Die beste Erklärung dafür ist relativ unkompliziert, nämlich dass jene, die solche Gerüchte wirklich glauben, mit den Menschen, die in der Stadt leben, praktisch keine gemeinsame Zeit verbringen. Sie kennen und verstehen sie nicht, oder sie kennen einander und wollen einander nicht verstehen. Natürlich kann diese Distanz nicht von einem auf den anderen Tag überbrückt werden. Es braucht dazu mediale Anstrengungen: Projekte wie zum Beispiel Eichgraben, die die Stadt ins Land tragen und umgekehrt; und es braucht auch Austausch zwischen Generationen gerade in solchen Familien, die sowohl in der Stadt als auch auf dem Land leben. (Till Hilmar, 13.7.2016)