Ob aus dem Kopfhörer Harmonien oder Dissonanzen kamen, war für die dörflichen Tsimane g'hupft wie g'sprungen.

Foto: Josh McDermott

Bewohner im Regenwald von Bolivien finden dissonante Klänge so schön wie Vertreter der Wiener Moderne.

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Cambridge – "Music is the healing force of the universe." Das war der Leitspruch des Free-Jazz-Pioniers Albert Ayler, der diese Woche 80 Jahre alt geworden wäre. Wenn Musik tatsächlich so eine universelle Heilkraft haben sollte, müsste sie von allen recht ähnlich wahrgenommen werden. Doch genau das scheint – Aylers Musik ist ein gutes Beispiel – nicht der Fall zu sein. Woran aber liegt es, dass manche Menschen Dissonanzen besser aushalten als andere? Ist das nur eine Frage der Gewohnheit, wie Vertreter der Wiener Schule meinten? In gewisser Weise ist ihre Hoffnung nicht ganz unbegründet – aber anders als erwartet.

Dass Musik nicht unbedingt die universale Sprache sein muss, als die sie gerne bezeichnet wird, haben schon frühere Studien angedeutet. Ins selbe Horn stößt nun eine interkulturelle Untersuchung US-amerikanischer Forscher, die in "Nature" veröffentlicht wurde. Ihrzufolge nehmen Menschen, die nie westlicher Musik ausgesetzt waren, keine ästhetischen Unterschiede wahr zwischen Klängen, die westlich sozialisierte Hörer als angenehm harmonisch oder aber als dissonant empfinden.

Die Untersuchung

Ein Team um Josh McDermott vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge hatte die musikalischen Vorlieben von 64 Mitgliedern des abgeschieden im bolivianischen Regenwald lebenden Tsimane-Volkes getestet. Ihnen wurden über Kopfhörer diverse Akkorde und Gesangsharmonien westlicher Musik vorgespielt. Es zeigte sich: Die Tsimane fanden Dissonanzen ebenso angenehm wie konsonante, also harmonisch übereinstimmende Klänge.

Eine Vergleichsgruppe aus 50 bolivianischen Stadtbewohnern, die schon gewisse Hörerfahrungen mit westlicher Musik hatten, bewerteten die Dissonanzen schon als etwas unangenehmer. Die stärkste Bevorzugung harmonischer Klänge fand sich jedoch in der dritten Testgruppe, die aus 48 US-Amerikanern – die Hälfte davon Musiker – bestand.

Wirklich universal: Laute, die Emotionen ausdrücken

Sollten die drei Gruppen hingegen andere Laute bewerten, etwa Lachen, Seufzen oder auch synthetisch erzeugte, raue, sich reibende Klänge, unterschieden sich ihre Bewertungen nicht voneinander.

"Die beobachtete Variation in den Vorlieben ist wahrscheinlich dadurch bestimmt, welchen musikalischen Harmonien wir ausgesetzt sind. Sie legt nahe, dass die Kultur eine bestimmende Rolle dabei spielt, wie unser ästhetisches Ansprechen auf Musik geformt wird", schreibt McDermotts Team. Folgeanalysen mit weiteren Tsimane hätten die ersten Ergebnisse nochmals bestätigt.

Viele Forscher gingen bisher davon aus, dass die ästhetische Reaktion auf Gleichklänge biologisch bedingt und quasi weltweit angeboren ist. Musik-Ethnologen und Komponisten hingegen nehmen zumeist an, dass Gleichklang (Konsonanz) ein Produkt westlicher Musikkultur ist – eine Vermutung, die diese Studie zu stützen scheint. (tasch, APA, red, 15. 7. 2016)