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"Wir fragen uns doch alle am Ende: Wo ist die Zeit geblieben?": Michael Krüger.

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Michael Krüger, "Das Irrenhaus". € 19,90 / 192 Seiten. Haymon, Innsbruck 2016

cover: haymon

STANDARD: Herr Krüger, unser Gespräch musste zweimal kurzfristig vertagt werden. Wollen Sie Ihre Leser vielleicht einweihen, was los war?

Krüger: Ich hatte eine Operation an der Halsschlagader. Das war kurz vor ultimo, ist aber Gott sei Dank bemerkt worden, weil ich auf dem Weg zu einer Jury-Sitzung für das Philosophicum in Lech plötzlich auf dem guten, linken Auge nicht mehr sehen konnte. Ich bin also zum Arzt gegangen, und der hat festgestellt, dass das Blut durch eine Halsschlagader nur noch tröpfchenweise durchging. Er hat mich noch im Hemd, wie ich es für die Untersuchung trug, ins Krankenhaus gejagt, und man hat operiert. Jetzt kann ich wieder sehen, denken, schreiben und lesen.

STANDARD: Das kam ganz unerwartet?

Krüger: Na ja, ich habe mein ganzes Leben lang sehr viel gearbeitet. Komischerweise ist das auch nach meinem Ausscheiden aus dem Hanser-Verlag 2013 weitergegangen. Ich bin Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, ich sitze in vielen Jurys, und ich versuche, jeden Morgen sehr früh aufzustehen, um ein paar Stunden zu schreiben. Ich habe, um ehrlich zu sein, nach meiner Pensionierung die Arbeit eher ausgedehnt. Das war jetzt ein dicker Hinweis mit dem Zeigefinger: Junge, mach mal ein bisschen langsamer.

STANDARD: Als Sie 2013 aus dem Hanser-Verlag ausschieden, den Sie über Jahrzehnte als Verleger und Unternehmer geleitet hatten, da sagten Sie: Bis 2017 bin ich noch ausgebucht, aber danach! Inzwischen sind Sie wahrscheinlich bis 2019 ausgebucht ... Sollten Sie nicht einmal mehr an sich denken?

Krüger: Das sagt man so. Aber wenn man sein ganzes Leben lang im Dienst anderer war, ist es sehr schwer, das ganz sein zu lassen. Von außen sieht das ja ziemlich klar aus: Der Mann ist nicht ganz dicht, warum tut er sich das an? Von innen aber ist die Perspektive eine andere. Man kann das verlangsamen, aber nicht so leicht stoppen. Man hat Kenntnisse, man hat Fertigkeiten, die einen großen Betrieb, wie es die Kultur ist, am Laufen halten. Wenn das Menschen machen, die keine Ahnung haben oder die einfach sagen, jetzt will ich auch mal, geht das zwar auch. Trotzdem steht da ja was auf dem Spiel. Aber klar, ich habe den Absprung nicht in der Weise geschafft, wie ich das vorgehabt hatte, und bin immer noch vollkommen in der Sache drin.

STANDARD: Die Sache, das heißt auch: häufiges Fliegen, oft Alkohol. Geraucht haben Sie auch ...

Krüger: Früher (lacht). Bis vorvorletzte Woche ja, seither keine einzige Zigarette.

STANDARD: Man stellt sich das Leben von Menschen wie Ihnen vielleicht nicht richtig vor. Denn im Grunde sind es angenehme Dinge, mit denen Sie zu tun haben: Sie lesen, Sie reden, Sie essen und trinken, oft an schönen Orten. Und doch ist es eine Belastung.

Krüger: Man denkt, es ist eine reine Freude, aber die Wahrheit ist: Es ist hart. Man entscheidet ja auch über Karrieren, wenn man in einer Jury ist wie in Lech. Ich habe jetzt 25 schwerwiegende philosophische Bücher gelesen ...

STANDARD: In welchem Zeitraum? Zwei Monate?

Krüger: In vier Monaten, aber neben den ganzen literarischen, die ich aus anderen Gründen lese. Ich habe die auch gern gelesen, weil ich so dranbleibe an dem, was heute philosophisch geschrieben wird. Jetzt in meiner eigenen Bude bin ich mehr als früher darauf angewiesen, mich auf dem Laufenden zu halten. Das macht mir großes Vergnügen, aber ich bin auch einer von drei Juroren. Das ist Verantwortung.

STANDARD: Waren da Bücher dabei, die nicht nur gut gedacht, sondern auch gut geschrieben sind? Es heißt ja oft, Philosophen könnten nicht schreiben.

Krüger: Ganz im Gegenteil, ich fand einige der Bücher glänzend geschrieben. Da hat sich etwas geändert. Durch Veranstaltungen wie die in Lech soll aber auch der essayistische Zugang gefördert werden.

STANDARD: Sie sprachen von Fertigkeiten. Eine wesentliche bei einem lebenslangen Lektor liegt wohl darin, aus guten Texten sehr gute Texte machen zu können.

Krüger: Das war jedenfalls mein Ehrgeiz.

STANDARD: Sie bekommen damit aber auch Bücher auf den Tisch, die noch keine richtigen sind oder vielleicht nie welche werden. Ist das nicht auch oft belastend?

Krüger: Vor allem, wenn die Bücher nicht das hergeben, was man erwartet hat. Dann wird man nervös. Und das nervöse Lesen ist etwas Entsetzliches. Man sitzt da und liest, und man wartet darauf, dass etwas kommt. Es kommt aber nicht. Da muss man bei der Sache bleiben wie ein Mönch. Da merkt man, wie man innerlich zerrissen wird.

STANDARD: Wie geht man damit um? Hilft Doping, also Wein, Tabak, andere Substanzen? Oder gibt es so etwas wie Atemtechniken des Lesens? Sie machen ja auch Yoga.

Krüger: Es gibt geübte Leser und ungeübte Leser. Auch unter den Intellektuellen übrigens. Ich kenne sehr kluge Leute, die fast unfähig sind, ein Buch von vorn bis hinten durchzulesen. Die Wahrheit ist: Es gibt keine Regeln, wie man am besten lesen soll. Da ist jeder anders.

STANDARD: Nun haben Sie wieder selbst ein Buch herausgebracht, einen kleinen Roman, nicht Ihr erster. Sie haben auch lebenslang Lyrik geschrieben. Sie fügen beständig der großen Menge an Texten eigene hinzu. Warum?

Krüger: Ich habe immer geschrieben. Und jetzt möchte ich die Dinge noch aufschreiben, die mir wichtig erscheinen. Dazu gehört diese Erzählung, die immer herumlag, die ich nun so erweitert habe, dass es ein kleiner Roman geworden ist: Das Irrenhaus. Das handelt natürlich von mir. Ein Mensch wird plötzlich und unerwartet in die Lage versetzt, nichts zu tun. Er entschließt sich, das anzunehmen. Als ein Experiment. Gibt es so einen Zustand in der Welt, in dem man tatsächlich nichts tut? Gibt es eine Alternative zu all der Hektik, die uns umtreibt? Das hat mich immer interessiert. Vor drei Jahren war ich dann selbst in dieser Situation.

Ich muss da nicht mehr hin, muss keine Entscheidungen mehr treffen, keine ökonomischen, keine literarischen, keine personellen. Ich kann ein freies Leben führen. Ich kann einen Zustand der Langeweile annehmen – es muss nichts mehr passieren. Was aber ist die Folge: Trocknet man aus und wird ein merkwürdiger Tropf? Man stellt fest: Wenn man als Mönch nach Melk geht, dann sind die dort genauso busy wie alle anderen auch. Es gibt keinen Ort für Langeweile.

STANDARD: "Das Irrenhaus" ist deutlich ein Schlüsselroman über die eigene Pensionierungserfahrung. So richtig entscheidend, und komisch, ist dabei allerdings der Irrsinn der Nachbarn.

Krüger: Das ist so. Wir fragen uns doch alle am Ende eines Tages, Monats, Jahres: Wo ist die Zeit geblieben? Das Zeitempfinden, jenseits der Uhr, ist das Subjektivste überhaupt. Der eine schreibt in einem Jahr einen Roman, der andere reist um die Welt, der Dritte beerdigt zwanzig Freunde und lebt doch weiter – die Uhr tickt. Es gibt keine Zeit jenseits der Zeit, die uns ganz selbst gehörte.

STANDARD: Als Verleger hatten Sie mit Umberto Eco zu tun. Wie kam der mit der Zeit zurecht?

Krüger: Umberto Eco war ein interessanter piemontesischer Verrückter. Alles, was er gelesen hatte, konnte er in seinem Kopf sofort zuordnen. Alles war ihm ein Zeichen, das war natürlich auch der Vorteil seiner Theorie. Zeichen lassen sich bündeln und ablegen. Er hatte eine unvorstellbare Disziplin, wenn er sich eingeschlossen hat in seine Kammer, hat er fünf, sechs Stunden geschrieben, und das war dann auch etwas. Er war natürlich immer überarbeitet wegen der vielen Reisen. Aber er war von Kind auf jemand, der genau gesehen hat, wo ein Problem ist, und der sah: Ist das Problem darstellbar, sprachlich darstellbar, lohnt sich die Darstellung? So entsteht ein Roman wie Das Foucaultsche Pendel. Das war alles in seinem Hirn angelegt.

STANDARD: Ein anderer Ihrer Autoren war Tomas Tranströmer, der 2011 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Der war vielleicht weniger im Stress, als Lyriker?

Krüger: Tranströmer hatte zeit seines Lebens einen Beruf. Er war Gefängnispsychologe, damit hat er sein Geld verdient. Die Dichtung war bei ihm zwar das Wichtigste, aber etwas, dessen Forderung er nur nachgab, wenn sich etwas meldete. Er hat alles zusammen in 60 Jahren etwa 300 Seiten geschrieben. Nicht mehr, auch seine Briefe waren kurz. Er hat die Welt in sich getragen, und immer dann, wenn er eine Metapher fand, von der er annahm, dass sie eine Sache besser trifft als alles andere, dann hat er sie aufgeschrieben. Mehr gab es nicht zu sagen.

STANDARD: Bei der Hauptfigur in "Das Irrenhaus" gibt es noch eine Spur: Der Mann ist mit einem großen Romanprojekt gescheitert, ein Vorhaben, das mit einem großen Formehrgeiz einherging. Aber "das Material hat Widerspruch eingelegt". Der Mann wurde Archivar. Steckt da auch etwas Autobiografisches dahinter?

Krüger: Ich habe immer noch ein Riesenprojekt vor, das hat den Arbeitstitel Was uns gehört. Ein großes Erzählprojekt, etwa 2000 Seiten. Aber die sind nicht fertig. Das sind lauter Zettel, Kladden, Notizbücher. Es geht mir um eine Phänomenologie der Gefühle. Gibt es wirklich den Gierigen und den Bescheidenen, oder ändert sich so etwas im Lauf des Lebens? Das ist mein anthropologisches Wunderwerk. Ob ich es je abschließen kann, weiß ich nicht, aber ich arbeite dran. Das macht mir Vergnügen.

STANDARD: Literatur sieht man ja auch oft im Zeichen der Verewigung. Sterben Menschen besser, die von ihren Werken überlebt werden?

Krüger: Ist ein Buch ein Vermächtnis? Oder ist es nicht genauso überlegenswert wie in der Blendung bei Canetti, dass man das zum Schluss einfach mit ins Grab nimmt?

STANDARD: Etwas ins Grab mitnehmen, wohin man bekanntlich nichts mitnehmen kann – eine schöne Paradoxie. Jetzt könnten Sie aber erst einmal ausprobieren, ob es mit dem Ruhestand noch etwas wird. Wofür würden Sie ihn gern nützen?

Krüger: Ich möchte noch einmal die grundlegenden Bücher in Ruhe studieren: die Bibel, den Koran, das Gilgamesch-Epos. Jetzt gerade habe ich wieder laut den Homer gelesen. Menschenskind, das ist doch eine große Freude! Wenn man mit diesem Rhythmus ins Grab sinkt, das ist doch besser als mit einem blöden Roman. Ich möchte die großen Dinge noch einmal lesen. Und verstehen.

STANDARD: Darf man das so verstehen, dass Sie durchaus auch für Religiosität offen sind?

Krüger: Das ist eine Gestimmtheit, kein Glaube. Je genauer man die Endlichkeit erfährt, desto sicherer wird man gegenüber dem religiösen Gefühl, das einen getragen hat.

STANDARD: Ein Gefühl, das auch ein Nachleben denkbar macht?

Krüger: Nein, das habe ich mir nach langem Studium abgewöhnt. Dafür ist kein Resonanzboden in mir. Dass wir sterblich sind und von uns nichts bleiben wird, das ist mir schon klar. Aber jetzt bin ich erst mal froh, dass ich überlebt habe. (Bert Rebhandl, Album, 16.7.2016)