"Frage nach der Schuld des Beobachters und der Schuld aller, die das Beobachtete konsumieren": Autorin Sabine Gruber.

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Sabine Gruber, "Daldossi oder das Leben des Augenblicks". € / 315 Seiten. C. H. Beck, München 2016

cover: c. h. beck

Bruno Daldossi ist ein Veteran der Kriegsfotografie, ein Haudegen, der alles gesehen, alles erlebt und alles überlebt hat – Tschetschenien, Bosnien, Afghanistan und den Irak. Daldossi hat sich einen Namen gemacht, seine Bilder werden hoch gehandelt, prämiert, ausgestellt. Jetzt ist er dabei, sich von der vordersten Front zurückzuziehen, er hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, schnell zu sein, auch lässt seine Lust am Fotografieren nach. Für seine Beziehung kommt Daldossis Entschluss offenbar zu spät, denn seine Lebensgefährtin Marlis hat ihn und die gemeinsame Wiener Wohnung verlassen und ist zu ihrer neuen Liebe nach Venedig gefahren. Jahrelang hat sie sich in Sorge um Bruno verzehrt, jetzt hat sie genug von ihm.

In ihrem neuen Roman nimmt sich Sabine Gruber eines gewaltigen Themas an, bei dem die Liebesgeschichte nur so etwas wie die Spitze des Eisbergs darstellt. Es ist die Frage nach der Legitimität einer Zeugenschaft ohne Intervention, nach der Schuld des Beobachters und letztlich nach der Schuld aller, die das Beobachtete konsumieren. Mit dem Vorurteil gegen Kriegsberichterstatter und -fotografen, dass die Abbildung von Gräueln und Grausamkeit abstumpfe und unmenschlich mache, gibt die Autorin sich dabei nicht zufrieden.

Der Titelheld ist kein Zyniker, er musste sich die professionelle Abstinenz mühsam antrainieren. Als junger Mann, im Südsudan, hat er noch seine Siebensachen an die Hungernden verschenkt – und gelernt, die "Mitfühler und Mitfühlerinnen" zu hassen, "die mich mit ihrem aufgesetzten Leidensblick auf meine Bilder angesprochen und mir vorgeworfen haben, ich würde daran auch noch verdienen". Es sind die, die auch nicht verstehen, dass die obszöne Schönheit mancher dieser Fotos nur durch Empathie entsteht.

Im Lauf der Zeit hat Daldossi seine eigene Ethik entwickelt: "Klarheit und Präzision sind ein Unterpfand der Zeugenschaft, der Annäherung, Wertschätzung, akribischen Beobachtung und Recherche." Und doch ist der Mann, zutiefst zerrüttet, ein Trinker geworden, hat sich das Gesehene in sein Gedächtnis gebrannt, in seinen Alpträumen festgesetzt. Anders als Ohrwürmer, gegen die angeblich das Kauen von Kaugummi hilft, erweisen sich die "Sehwürmer" als unausrottbar. "Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben", heißt es bei Ebner-Eschenbach. Was aber, wenn diese Augenblicke des Grauens längst die Herrschaft an sich gerissen haben?

Mit dem ihr eigenen gründlichen Ernst handelt Sabine Gruber diese Fragen ab, oder vielmehr: lässt ihre Figuren sie argumentieren und ausagieren, differenziert, detailreich und anschaulich. Daldossi oder Das Leben des Augenblicks ist zugleich eine Schule des Hinschauens, eine Zumutung für uns, die wir uns in unserem lauen Unbehagen eingerichtet haben. In die Erzählung hat die Autorin sechzehn schmerzhaft genaue Bildbeschreibungen montiert, nach Art eines Katalogtextes, mit Titel, Ort, Datum der Aufnahme und Angaben zur Publikation.

Routinierter Schwerenöter

Die personale Erzählweise des ebenso sorgfältig recherchierten wie komponierten Romans ist eine Herausforderung, die Sabine Gruber bravurös meistert – mit einer quasi breitbeinigen Erzählhaltung: Dieser Bruno Daldossi, der wie seine Autorin aus Südtirol stammt, ist ein routinierter Schwerenöter, dem mit zunehmendem Alter und Alkoholkonsum die Selbstverständlichkeit abhandenkommt, mit der Sex seine innere Balance gewährleistet hat. Nach einem fruchtlosen Versuch, Marlis von ihrem Venezianer zurückzuerobern, fährt Bruno der Journalistin Johanna, einer Bekannten von früher, nach Lampedusa nach, wo diese über afrikanische Frauen recherchiert. Johannas Perspektive ergänzt die männliche Sicht, tonangebend bleibt freilich das Milieu der rauen Gesellen, vulgär, sexistisch, herrenwitzig.

Die Autorin selbst verweist in einer Nachbemerkung auf ihren verstorbenen Freund, den Kriegsreporter Gabriel Grüner, als Referenzfigur. Daldossi oder Das Leben des Augenblicks behält auch als spätes Gegenstück zu Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens (2003) wie selbstverständlich das letzte Wort. Am Ende ist nichts gelöst, aber der Leser doch geneigt, Daldossi recht zu geben, dass wohl "nur die Wankelmütigen und Unsicheren die Welt vor Mord und Totschlag bewahren".

Bei aller realitätsgesättigten Schilderung, bei aller Glaubwürdigkeit des zwischen Resignation und dem Bemühen um Anständigkeit zerrissenen Protagonisten bleibt doch eine Distanz spürbar, die vielleicht als erzählerische Notwehr gegen die Bürde der zentnerschweren Themen zu verstehen ist: vom Totenschiff vor Lampedusa bis zum Tahrir-Platz, von den Phosphorbomben der US-Marines in Falludscha bis zur Zwangsprostitution nigerianischer Flüchtlingsfrauen. Nichts fehlt.

Das Buch lebt indes von Sabine Grubers Kunst, magische Momente der Intensität und Intimität herzustellen. Als etwa Daldossi durch Johanna erfährt, dass er doch nicht zur "Frauenscheuche" geworden ist, nennt ein sensibler Carabiniere die "wahre Liebe" ein "beleuchtetes Fenster in einer dunklen Nacht", "una quiete accesa" – in Daldossis Übersetzung "eine entflammte Stille". Sichtbar wohl auch im Herzen der Finsternis. (Daniela Strigl, Album, 20.7.2016)