Nachher ist man immer gescheiter. Frankreich hatte nach der Fußball-EM aufgeatmet: Der befürchtete Terror-GAU bei dem europäischen Sportfest war ausgeblieben. Am Donnerstag, in einem TV-Interview zum französischen Nationalfeiertag, entließ der Staatschef François Hollande seine Bürger mit der optimistischen Botschaft in die Sommerferien, dem Land gehe es auch wirtschaftlich wieder besser. Am Abend fanden in den Feuerwehrkasernen des Landes dann noch Bälle statt, begleitet von Feuerwerken. Dann passierte es doch wieder: Was unmöglich schien – nämlich die "Monstrosität" (so Hollande) der Bataclan-Attacke vom November 2015 zu übertreffen -, wurde an einem lauen Sommerabend an der schönen Côte d'Azur zur Tatsache.

Jetzt sind sich alle einig: Am "Quatorze Juillet" (14. Juli) war einmal mehr ein Symbol Frankreichs im Visier, und mit der weltberühmten Promenade des Anglais in Nizza wurde auch das Reiseland direkt getroffen. Hollande hatte noch am Nationalfeiertag erklärt, dass er nicht mehr nur Kampfjets, sondern auch Militärberater an die Front schicken werde, um die Iraker im Kampf um Mossul und andere Städte zu unterstützen.

Andere Länder leben ebenfalls mit der Terrordrohung, namentlich jene, die – wie die USA – in Syrien und im Irak Krieg gegen die IS-Milizen führen. Frankreich ist aber auch noch aus einem weiteren Grund die Hauptzielscheibe des internationalen Terrorismus geworden. Oder besser gesagt wegen eines ganzen Bündels an Gründen, die einen brandgefährlichen Mix ergeben und die sich unter dem Stichwort "Banlieue" (Vorstadt) subsumieren lassen: Dort grassiert der Hass auf Frankreich, auf ein Land, das die Einwanderer aus den Exkolonien – zumindest in deren Alltagsempfindung – als Bürger zweiter Klasse behandelt; dort wuchern der Salafismus und die Parallelgesellschaft, die teils ganz andere Prämissen kennt als "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit".

In das Furchtbare der Amoktat von Nizza mischt sich eine weitere Erkenntnis, die vielleicht weniger schrecklich klingt, aber in ihrer Tragweite ebenso gravierend ist: Der 31-Jährige tunesischer Abstammung (siehe: Was über den Attentäter bisher bekannt ist)

zählte offenbar nicht einmal zu jenen 8250 Radikalislamisten, die die französische Polizei offenbar in ihrer S-Kartei führt. Allein diese Zahl macht schwindlig, wenn man sich deren Gefährdungspotenzial für ein Land – selbst von der Größe Frankreichs – vor Augen führt. Der Täter von Nizza gehörte offenbar zu jener ungezählten Menge von Banlieue-Abkömmlingen, die abseits der Jihad-Sphäre leben, vielleicht sogar ohne Kontakt dazu.

Vielleicht hörte er einfach den neuen Aufruf eines IS-Sprechers, in dem unter anderem von einem möglichen Lastwageneinsatz gegen die Ungläubigen die Rede war. Das bedeutet, dass Geheimdienste und Terrorfahnder noch so präzise, flächendeckend und erfolgreich arbeiten können: Das Reservoir an potenziellen Attentätern bleibt trotzdem nicht erfassbar. Denn die Täterprofile liegen irgendwo zwischen Kleinkriminalität und Psychiatrie, das heißt in einem Gebiet, das so weitläufig ist wie die Banlieue-Zonen um Paris, Lyon oder eben Nizza. Selbst wenn der IS eines Tages vernichtet und ausgemerzt sein sollte, wird die Gefahr weiterbestehen. Das mag keine neue Erkenntnis sein. Den Franzosen wird sie aber nach dem Anschlag von Nizza erst richtig klar. Nur was dagegen zu tun ist, weiß niemand.(Stefan Brändle aus Paris, 15.7.2016)