Bild nicht mehr verfügbar.

"Er war jemand, der recht rational eine Gedankenwelt zusammensetzt, die auf irrationalen Prämissen beruht."

Foto: Felix Heyder/dpa

Thomas Weber
Wie Hitler zum Nazi wurde

Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von "Mein Kampf"
Propyläen-Verlag 2016
528 Seiten, 26 Euro

Cover: Propyläen-Verlag

STANDARD: Warum haben Sie das Buch "Wie Hitler zum Nazi wurde" geschrieben?

Weber: Nachdem ich mein letztes Buch über Hitlers ersten Krieg geschrieben hatte, habe ich eigentlich gedacht: Das war jetzt einmal genug Hitler. Ich hatte in dem Buch ja beschrieben, dass Hitler als ein Eigenbrötler mit noch formbaren politischen Ideen aus dem Krieg zurückgekommen war, als jemand, für den Antisemitismus zumindest nicht besonders wichtig gewesen war. Dann wurde ich aber immer wieder bei Vorträgen und Lesungen gefragt, wie es denn sein könne, dass er nur ein Jahr später ein radikal antisemitischer und faschistischer Führer gewesen war. Da ich die Frage nie so richtig beantworten konnte, habe ich dann doch wieder Blut geleckt.

STANDARD: Und dann wurde die Arbeit an dem Buch für Sie zu einem Lernprozess?

Weber: Ja, es war so, wie es häufig beim Schreiben von Büchern ist: Man merkt erst beim Recherchieren und Schreiben, dass alles ganz anders war, als man selbst gedacht hat. Ich habe gedacht, dass Hitlers politische und intellektuelle Entwicklung Ende 1919, spätestens Anfang 1920 abgeschlossen war. Deshalb habe ich eigentlich auch vorgehabt, ein Buch über Hitler im Jahre 1919 zu schreiben. Ich habe dann aber gemerkt, dass Hitler noch bis Mitte der 20er-Jahre ein politisches Chamäleon war. Dadurch wurde Wie Hitler zum Nazi wurde dann ein Buch über Hitler in den Jahren 1918 bis 1925/26.

STANDARD: Es gibt doch schon tausende Bücher und Aufsätze über Hitler. Kann es überhaupt noch neue Erkenntnisse über ihn geben?

Weber: Richtig: Es gibt viel zu viele Bücher über Hitler, und bei vielen Büchern über Hitler fragt man sich tatsächlich, was man jetzt von dem Buch gelernt hat, was man nicht auch schon vorher gewusst hatte. Dennoch wissen wir erstaunlich wenig, wie Hitler eigentlich zum Nazi geworden ist. Auch wissen wir erstaunlich wenig über die Person Hitlers, die sich hinter der Fassade befindet, die er selbst und die NS-Propagandisten errichtet haben.

STANDARD: Warum, glauben Sie, ist das so wichtig?

Weber: Wir können Hitler als "Political Operator" und als Diktator nicht verstehen, wenn wir nicht besser verstehen, wie der unverstellte Hitler war. Und es gibt auch immer wieder Überraschungen, wie zum Beispiel Wolfram Pytas neue Hitler-Biografie, die eine wirklich neue Erklärung für den Erfolg dieses Mannes bietet, aber leider nicht genug Aufmerksamkeit bekommen hat. Herr Pyta zeigt in seinem Buch, dass sich Hitler als Künstler in der Politik sah. Das klingt banal, ist es aber überhaupt nicht. Dies erklärt zum Beispiel, wieso bei Hitler alles in der Politik Performance war und kein Platz für eine diskursive Auseinandersetzung mit anderen Leuten war. Meiner Meinung nach liegt die Gefahr der großen Schwemme von Büchern über Hitler, darin, dass wir alle von der großen Masse so ermüdet sind und leicht übersehen, wenn etwas wirklich Neues kommt.

STANDARD: Was ist die wichtigste These Ihres neuen Buches?

Weber: Es ist immer schwierig, 500 Seiten in ein, zwei Sätzen zusammenfassen zu müssen. Aber meine These ist, dass Hitlers politisches Erweckungserlebnis – sein Damaskus-Erlebnis – die verspätete Realisierung der Kriegsniederlage Anfang Juli 1919 gewesen ist, und dass er als Reaktion darauf zwei Fragen formuliert hat, die den Rest seines Lebens bestimmt haben: Wie konnte es zur Niederlage kommen? Wie muss ein Deutschland aussehen, welches in einer rapide sich wandelnden Welt dauerhaft Bestand haben kann?

STANDARD: Wo holte er sich seine Ideen her?

Weber: Im Gegensatz zu den meisten neueren Arbeiten zum Thema Hitler verstehe ich Hitler nicht als jemanden, der wie ein Schwamm alles um sich in der nachrevolutionären Welt Münchens aufgesogen hat und dadurch ein typisches und beinahe beliebiges Produkt der Reichswehr Münchens gewesen ist. Ich sehe ihn als jemanden, der sich in einem relativ heterogenen Milieu bewegte und sich wie an einem Buffet recht selektiv die Dinge zusammengesucht hat, die ihm schmeckten und die seine beiden politischen Grundfragen beantworteten. Daher sehe ich ihn nicht als nihilistischen Racheengel, sondern als jemanden, der recht rational eine Gedankenwelt zusammensetzt, die auf irrationalen Prämissen beruht.

STANDARD: Wie würden Sie seine Entwicklung beschreiben?

Weber: Ich argumentiere, dass sein Augenmerk zuerst auf einem antisemitischen Antikapitalismus lag, da er als Grund für die innere Schwäche Deutschlands einen angeblichen jüdischen Finanzkapitalismus ausmachte. Daher beruhte sein Rassismus zunächst auch auf einem Gegensatzpaar zwischen Juden und Nichtjuden.

Andere "Rassen" interessierten ihn damals nicht wirklich. Und es kam ihm mehr auf den Kampf gegen einen "jüdischen Geist" denn gegen jüdische Körper an. Ab 1920/21 wandelte sich dann sein Weltbild dahingehend, dass er in einer Verflechtung mit einem restaurierten zaristischen Russland die Antwort auf die Frage sah, wie Deutschland dauerhaft in einer sich rapide wandelnden Welt Bestand haben kann. Zu dem Zeitpunkt wurde dann auch Antibolschewismus für Hitler wichtig. Erst beim Schreiben von Mein Kampf schwenkte Hitler um von einem Verlangen nach einer dauerhaften Verflechtung mit Russland zu einem Verlangen, Lebensraum im Osten zu erobern und so eine andere Antwort auf die Frage zu finden, wie Deutschland dauerhaft in einer sich rapide wandelnden Welt Bestand haben kann. In diesem Zusammenhang wandelt sich auch sein Rassismus zu einem Rassismus, in dem er sich auch für andere Rassen interessiert und er Slawen zu Untermenschen macht und es nun auch nicht mehr in erster Linie auf "Geist", sondern auf "Körper" ankommt.

STANDARD: Wie ging er taktisch vor?

Weber: Er hatte als "political operator" großen Erfolg, weil er nicht alles vorplante und seine Endziele nicht ausdefinierte, sondern nur grob die Richtung seiner Ziele definierte. Dies erlaubt ihm, auf unvorhergesehene Ereignisse und Entwicklungen zu reagieren und diese für seine Zwecke auszunutzen. Schließlich definierte er auf allen Politikfeldern nur grobe, flexible Lösungen, so dass nicht einmal er selbst wusste, was die konkrete "Endlösung" dieser diversen Politikfelder sein würde.

STANDARD: Sehen Sie Hitler nach Ihren Recherchen zu Ihren beiden Bücher anders als vorher?

Weber: Ich habe mir Hitler als jemanden vorgestellt, bei dem Anfang 1920 die politische Entwicklung weitgehend abgeschlossen gewesen war. Ferner habe ich vermutet, dass die Erfahrung der Revolution für Hitler ganz einschneidend gewesen war, und mir ist nicht klar gewesen, wie wichtig die verspätete Realisierung der Niederlage im Krieg für Hitler gewesen war.

Auch habe ich nicht gewusst, wie flexibel Hitler sein Weltbild immer wieder verändert und an neue Gegebenheiten angepasst hatte, wenn er gemerkt hatte, dass seine bisherigen Antworten auf seine beiden politischen Grundfragen nicht funktioniert hatten. Mit Blick auf den Ersten Weltkrieg habe ich vermutet, dass Hitler nicht – wie in der Forschung angenommen – ein typisches Produkt seines Weltkriegsregiments gewesen war, habe aber schon gedacht, dass die Kriegserfahrung ihn radikalisiert und auch zum radikalen Antisemiten gemacht hatte. Daher war ich überrascht, dass er noch politisch recht desorientiert aus dem Krieg zurückgekehrt war, Antisemitismus für ihn nicht wichtig gewesen war und er politisch nicht sehr anders als zu Kriegsbeginn eingestellt gewesen war. Erst im Nachhinein wurde der Erste Weltkrieg für Hitler eine wichtige politische Inspirationsquelle.

STANDARD: Arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch?

Weber: Ja, ich habe nebenbei an einem Buch gearbeitet, welches recht fortgeschritten ist und das eine allgemein anerkannte Theorie infrage stellt – nämlich jene, dass der Erste Weltkrieg die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen sei. Ich stelle natürlich nicht infrage, dass der Erste Weltkrieg sehr wichtig gewesen ist, argumentiere aber dahingehend, dass es vier wichtigere Urkatastrophen gab. Die wohl wichtigste Urkatastrophe war die Transformation von multiethnischen dynastischen Reichen, wie sie bis zum 19. Jahrhundert die Norm gewesen waren, zu modernen Nationalstaaten. Die zweite Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war die große Krise des Liberalismus und der Globalisierung – also der westlichen Moderne, die mit dem Börsensturz des Jahres 1873 den Sprung von den Schreibstuben einiger linker und rechter Intellektueller in die breite Gesellschaft geschafft hatte.

Die dritte Urkatastrophe bestand darin, dass in den Pariser Vorortverträgen und anderswo versucht wurde, die Zukunft Europas auf dem Geist von 1776 und 1789 aufzubauen, also auf den Ideen der Französischen und der Amerikanischen Revolution, aber nicht auf dem Geist von 1783, also den Prinzipien des britischen Weltreichs. Statt ruhiger und gradueller reformistischer Fortentwicklung unter dem Vorzeichen einer konstitutionellen Monarchie bevorzugte man schnelle und revolutionäre Brüche hin zu Republiken. Die vierte Urkatastrophe ereignete sich am 20. April 1889 in Braunau am Inn mit der Geburt Adolf Hitlers. (Armin Fuhrer, 17.7.2016)