Menschenrechtsaktivistin Sebnem Korur Fincanci.

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Demonstrationen in Istanbul für die Freilassung des Schriftstellers Ahmet Nesin, der Menschenrechtsaktivistin Sebnem Korur Fincanci und des Journalisten Erol Onderoğlu am 21. Juni.

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STANDARD: Sie wurden zusammen mit 31 Journalisten – darunter auch der Türkei-Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoğlu – festgenommen, weil Sie sich an einer Solidaritätsaktion für die türkisch-kurdische Zeitung "Özgür Gündem" beteiligt hatten. Erreicht die Repression in der Türkei derzeit einen neuen Höhepunkt?

Fincanci: Ja, leider. Wir drei haben natürlich mehr nationale und internationale Aufmerksamkeit erhalten, als sie die meisten Verfolgten genießen. Ohne diese positive Diskriminierung wären wir drei nicht so schnell wieder freigelassen worden.

STANDARD: Warum nimmt die Repression in der Türkei zu?

Fincanci: Das hat viele Gründe, aber um einen von ihnen aufzuzählen: Dass es die prokurdische HDP-Partei bei den Wahlen im Juni 2015 ins Parlament geschafft hat und sie in manchen Regionen zwischen 60 und 90 Prozent erreicht hat, war ein beispielloser Erfolg. Nun bestraft Präsident Erdoğan alle, die diesen ermöglicht haben. Erdoğan will das Land allein regieren. Alles und jeder, der ihm im Weg steht, nicht nur die Kurden, sondern alle Kritiker, sollen aus dem Weg geräumt werden.

STANDARD: Sie waren elf Tage in Haft. Inwiefern unterscheiden sich Frauen- von Männergefängnissen?

Fincanci: Einen Unterschied machen allein schon die spezifisch-weiblichen Bedürfnisse des Alltags aus, etwa wenn Frauen ihre Periode bekommen, aber noch nicht einmal Taschentücher zur Verfügung haben. Dann helfen sich Frauen gegenseitig aus. Oder wenn die Insassinnen irgendwelche Dienste oder Arbeiten verrichten müssen und ihre Kinder – und von ihnen gibt es viele im Gefängnis, da Frauen in unserer patriarchalen Welt leider noch immer die Hauptverantwortung für sie tragen – zurückbleiben. Um sie kümmern sich oft die Wächterinnen. Die Solidarität, die sich unter den Frauen bildet, ist sehr groß. Nach dem, was mir meine männlichen Freunde erzählen, war das Wachpersonal bei ihnen sehr freundlich und hilfsbereit. Aber sie haben von vielen Fällen von Gewalt gehört. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Lage von politischen und all den anderen Gefangenen.

STANDARD: Wie sahen Ihre Tage im Gefängnis aus?

Fincanci: Die ersten sieben Tage war ich in isolierter Einzelhaft, da hatte ich nur Kontakt zu meinem Anwalt. Diese komplette Stille ist verstörend, weil man plötzlich alles hört, jedes kleinste Geräusch. Ich habe versucht, so viel wie möglich zu lesen und zu schreiben. Man orientiert seinen Tag daran, wie sich die Sonne draußen bewegt, um die Zeit zu schätzen, schließlich hat man keine Uhr. Nach den sieben Tagen habe ich darum gebeten, mit anderen Insassinnen in eine Zelle zu kommen. Es gab drei Kategorien: die PKK-Gefangenen, die politisch-oppositionellen Gefangenen und die durchgemischten politischen Gegner. Ich wollte in die dritte Gruppe, da sie eine weniger verschworene Einheit war, in die ich mich leichter integrieren konnte. Außerdem habe ich bereits viele von ihnen gekannt über meine Arbeit als Aktivistin oder weil ich deren Freunde, Bekannte, Verwandte begutachtet oder obduziert habe.

STANDARD: Weswegen sitzen die Frauen ein?

Fincanci: Die meisten wegen Diebstahls, viele wegen Mordes oder Gewaltstraftaten. In sehr vielen Fällen waren diese Frauen zuvor selber lange Opfer von Gewalt durch ihre Männer, es handelt sich also oft um Selbstverteidigung. Dann gibt es viele Frauen, unter ihnen viele Ausländerinnen, die als Drogenkurierinnen eingesetzt wurden – sie sind die kleinen Fische, die schneller bestraft werden als die großen.

STANDARD: Sie sind Menschenrechtsaktivistin und Folterdokumentationsexpertin. War die Erfahrung aus Ihrer Zeit im Gefängnis gewissermaßen auch hilfreich?

Fincanci: Auf jeden Fall, ich habe sehr viel gelernt. Als Aktivistin allein kommt man ansonsten schließlich nicht so nah an die Zustände im Gefängnis heran, vor allem nicht in der Türkei.

STANDARD: Was haben Sie als Erstes gemacht, nachdem Sie freigelassen worden sind?

Fincanci: Meine Freunde und Studenten umarmt, die unentwegt für mich protestiert haben. Abends waren wir essen, am nächsten Tag bin ich an die Arbeit gegangen. Dazwischen habe ich mich in eines der Boote am Bosporus gesetzt, die ich so liebe, einen Tee getrunken, gelesen, den Möwen zugesehen.

STANDARD: Sie sind auf freiem Fuß, Ihr Verfahren aber geht weiter. Wie wird es ausgehen?

Fincanci: Das Verfahren ist unrechtmäßig, aber dennoch lässt sich in der Türkei leider nichts voraussagen, vor allem wenn es um den Kurdenkonflikt geht. Inzwischen reicht es in der Türkei, sich für Meinungsfreiheit auszusprechen, um schon als Terrorist zu gelten oder als jemand, der Terrorismus unterstützt. (Anna Giulia Fink, 17.7.2016)