Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat am Samstag den Angriff in Nizza für sich beansprucht, das zumindest verlautbarten nun der Terrorgruppe nahestehende Kreise. Der Angreifer sei einer der Soldaten des IS gewesen, teilte die mit der Terrormiliz verbundene Nachrichtenagentur Amak am Samstag im Internet mit: "Er hat die Operation ausgeführt als Antwort auf die Rufe, Nationen anzugreifen, die Teil der Koalition sind, die gegen den Islamischen Staat kämpfen." Die Erklärung ließ sich zunächst nicht unabhängig verifizieren.

Bisher war der 31-jährige Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der auf der Promenade des Anglais in Nizza mit einem Lkw in eine Menschenmenge gerast war und mindestens 84 Menschen getötet hatte, zwar wegen mehrerer krimineller Taten registriert und vorbestraft gewesen, Verbindungen zu islamistischen Gruppen seien den Geheimdiensten allerdings nicht bekannt, hatte am Freitagabend der zuständige Staatsanwalt François Molins mitgeteilt. Allerdings entspreche die Tat des Tunesiers genau jenem Muster, das die Terrorgruppe IS potenziellen Angreifern vorgeschlagen hat. Man ermittle daher auch wegen "Handlungen im Zusammenhang mit einer terroristischen Vereinigung".

Vier Verhaftungen

Unterdessen sind vier Männer aus dem näheren Umfeld des Attentäters festgenommen worden, wie die Nachrichtenagentur AFP am Samstag nach Informationen aus Ermittlerkreisen berichtete. Ein Reuters-Reporter beobachtete wie etwa 40 Elite-Polizisten ein kleines Appartement in der Nähe des Bahnhofs von Nizza stürmten. Dort wurde eine Person verhaftet. Die am Freitag festgenommene Ex-Frau des 31-jährigen Tunesiers, der am Donnerstag in der südfranzösischen Stadt mit einem Laster in eine Menschenmenge gerast war, befinde sich noch in Polizeigewahrsam.

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Vier – Reuters bereichtet von drei – Verhaftungen aus dem Umfeld des Attentäters wurden am Samstag von der französischen Polizei durchgeführt.
Foto: REUTERS/Eric Gaillard

Auch der französische Premierministers Manuel Valls ist überzeugt, dass der Attentäter von Nizza ein organisierter Islamist war: "Das ist ein Terrorist, der ohne Zweifel auf die eine oder andere Weise mit dem radikalen Islamismus verbunden war", sagte Valls dem Sender France 2 am Freitag. Valls bestritt zugleich, dass die Sicherheitsbehörden versagt hätten. Die Vorkehrungen für das Feuerwerk zum Nationalfeiertag am 14. Juli seien die gleichen gewesen wie beim Karneval in Nizza und bei der Fußballeuropameisterschaft, als mehrere Spiele in der südfranzösischen Stadt ausgetragen wurden.

Aus Sicht des französischen Innenministers Bernard Cazeneuve kann sich der Täter sehr schnell radikalisiert haben. Menschen, die für die Botschaften der Terrormiliz IS zugänglich seien, ließen sich für extrem brutale Aktionen gewinnen, ohne unbedingt dafür ausgebildet worden zu sein, sagte Cazeneuve nach einer Kabinettssitzung am Samstag.

Gleichzeitig betonte der Politiker jedoch, dass der 31-Jährige, der am Donnerstag mit einem Lastwagen in eine feiernde Menschenmenge gerast war, der Polizei nicht als politisch radikalisiert bekannt gewesen sei.

Der Pariser Eiffelturm leuchtet in Gedenken an die Opfer von Nizza in den Farben der französischen Flagge Blau-Weiß-Rot. Die Beleuchtung werde während der gesamten dreitägigen Staatstrauer anbleiben, wie die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo auf Twitter schrieb.
Foto: APA/AFP/MATTHIEU ALEXANDRE

Familie: Attentäter litt unter Depressionen und war gewaltätig, aber kein Moslem

Nach Angeben seines Vaters Mohamed Mondher Lahouaiej-Bouhlel hatte der Attentäter unter Depressionen gelitten und mit Religion nichts zu tun gehabt. Sein Sohn habe von 2002 bis 2004 "Probleme" gehabt, die zu einem "Nervenzusammenbruch" geführt hätten. worauf er Medikamente gegen Depressionen verschrieben bekommen hatte. Der Vater betonte außerdem, dass sein Sohn "keine Verbindungen zur Religion" gehabt habe. "Er hat nicht gebetet, er hat nicht gefastet, er hat Alkohol und sogar Drogen genommen".

Nach Angaben seiner Familie soll Mohamed Lahouaiej Bouhlel schon vor seiner Bluttat gewalttätig gewesen sein. "Er schlug seine Frau, also meine Cousine, er war ein Mistkerl", berichtete ein Familienmitglied am Samstag der Online-Ausgabe der britischen Zeitung "Daily Mail". "Er trank Alkohol, er aß Schweinefleisch und er nahm Drogen." Der 31-Jährige Tunesier sei kein Moslem gewesen.

Sicherheits-App versagte

Eine neu entwickelte App, die in Frankreich vor Anschlägen warnen soll, hat nach Regierungsangaben in Nizza nicht geholfen. Die App mit dem Namen SAIP habe am Donnerstagabend erst mit mehr als drei Stunden Verspätung Alarm geschlagen, teilte das französische Innenministerium am Samstag mit. Sie soll Menschen in der Nähe von Attacken oder bei Verdachtsfällen eigentlich umgehend über deren Mobiltelefon warnen. Die App wurde kurz vor der Fußball-Europameisterschaft im Land vorgestellt.


Die tödliche Fahrt auf der Promenade des Anglais in Nizza
derStandard.at

Präsident François Hollande rief am Freitag Nachmittag eine dreitägige Staatstrauer aus und verlängerte den Ausnahmezustand, der eigentlich Ende Juli hätte auslaufen sollen. An den Sicherheitsmaßnahmen der Regierung gab es – anders als bei früheren Anschlägen – diesmal schnell Kritik.

Schweigeminute am Montagmittag

Frankreich wird am Montagmittag mit einer Schweigeminute der Opfer des Anschlags von Nizza gedenken. Dies meldete die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Regierungskreise. Schweigeminuten hatte es auch schon nach den Terroranschlägen in Paris im Jänner und November vorigen Jahres gegeben.

In Florenz ist als Zeichen der Trauer über die Anschlagsopfer eine riesige schwarze Statue von Michelangelos David ausgestellt worden. Der schwarze, liegende David in der Größe von Michelangelos Meisterwerk wurde auf der Piazza della Repubblica im Herzen von Florenz positioniert. Es handelt sich um eine Initiative im Rahmen der Michelangelo-Woche, bei der das Renaissance-Genie gefeiert wird. Der schwarze David bleibt bis zum kommenden Donnerstag ausgestellt.

Statement am Tag nach dem Attentat in Nizza.
Foto: APA/AFP/POOL/ERIC GAILLARD

Diesmal muss Hollande um den Schulterschluss kämpfen

Der weiße Laster, der am Freitagnachmittag weiter auf der Promenade des Anglais von Nizza stand, ganz banal zwischen Palmen und Kiesstrand, erinnerte an unerträgliche Bilder – so unerträglich, dass der TV-Sender France 2 sich entschuldigte, weil er in der Hast einige davon gezeigt hatte. Jetzt zeugen nur noch rote Flecken auf der Chaussee von der Blutspur, die der Amokfahrer über zwei Kilometer entlang der Bucht von Nizza zog.

Eine ältere Einwohnerin von Nizza erzählt, wie der Lkw auf einer Gegenspur herangerast und die meisten Zuschauer des zu Ende gegangenen Feuerwerks im Rücken erfasst habe. "Ich selbst sah ihn nicht kommen, ich war zum Glück einige Schritte daneben", sagt die Frau. "Er fuhr die Leute um, wie man Getreide mäht." Ein anderer Beteiligter vergleicht die Szene mit einer "Bowlingkugel, die in die Kegel knallt". Er erzählt, wie der Laster wahllos Menschen und Scooter umgefahren habe, zum Teil auf der Straße, zum Teil auch auf dem Gehsteig; zudem habe der Fahrer aus dem Wagenfenster auf Passanten geschossen.

"Es ist der Lastwagen!"

Es war ein schöner Abend gewesen, funkelnd und glitzernd, wie es die Niçois (die Bewohner von Nizza) so gern mögen. Jetzt ist die Metropole der Côte d'Azur sprachlos, unter Schock. Vor einem Krankenhaus der Stadt, wo am Freitag noch 50 schwer Verletzte gepflegt wurden, darunter etliche Kinder, berichtet eine am Arm verletzte Frau, dass die Menge die Bedrohung zuerst mehr gespürt als realisiert habe. "Es ist der Lastwagen!", habe dann jemand geschrien. "Und dann war er da." Sie bricht ab, ihr Freund versucht weiterzusprechen: "Ich habe den Lkw gesehen, habe die Gesichter der umgefahrenen Leute gesehen." Dann versagt die Sprache.

Ein einzelner Mann hatte versucht, den Laster zu stoppen, indem er auf das Trittbrett sprang; auch andere rannten dem 19-Tonner nach. Ein Scooterfahrer wurde bei der Verfolgung von den Schüssen aus der Fahrerkabine gestoppt. Weiter vorn schoss der Fahrer auch auf Polizisten. Er starb im Kugelhagel des Gegenfeuers.

Eine Stunde lang kehrten langsam und von überall die Leute zurück – aus Privatwohnungen, in denen sie Schutz gefunden hatten, vom Kiesstrand und sogar aus den Wellen des Meeres, in das sie gesprungen waren.

84 Tote

Die vorläufige Bilanz: 84 Tote, darunter zwei US-Amerikaner, eine Schweizerin, eine Russin, eine Armenierin, ein Ukrainer und ein Tunesier. Über österreichische Opfer war bis Freitagabend noch nichts bekannt. 202 Opfer schwer verletzt, davon 52 lebensgefährlich. Dutzende wurden mit Schock eingeliefert. Einziger Lichtblick: Ein Säugling, der in der Massenpanik in seinem Kinderwagen abhandengekommen war, wurde den Eltern eine Stunde später heil zurückgegeben.

Erst Schüsse eines Polizisten stoppten die Amokfahrt eines Tunesiers, der mit einem gemieteten Lkw dutzende Menschen niederfuhr.
Foto: AFP PHOTO / ANNE-CHRISTINE POUJOULAT

Ministerpräsident Manuel Valls erklärte, der Attentäter habe vermutlich "in der einen oder anderen Form" Kontakt zum radikalen Islam. Vorwürfe, die Sicherheitskräfte hätten versagt, wies Valls zurück. Innenminister Cazeneuve erklärte hingegen, der Mann sei den Geheimdiensten nicht wegen Aktivitäten in Bezug zum radikalen Islam bekannt gewesen.

Präsident François Hollande wandte sich – wie schon nach den Terroranschlägen vom November – noch in der Nacht im Fernsehen an die Nation. Er erklärte, der Ausnahmezustand werde um drei Monate verlängert. Noch am Tag zuvor hatte er dessen Aussetzung für Ende Juli angekündigt, dazu den Abbau der Militärpatrouillen von 12.000 auf 7000 Soldaten.

Zusätzliche Reservisten

Jetzt korrigierte sich Hollande schon wieder: Das Dispositiv werde, so sagte er, "auf hohem Niveau operativ bleiben". Außerdem werde er zusätzliche Reservisten der Armee aufbieten. Der Anschlag von Nizza zeige nach den Attentaten von Paris, dass "ganz Frankreich bedroht" sei, führte der 61-jährige Sozialist weiter aus. Jetzt müsse das Land "absolute Wachsamkeit und totale Entschlossenheit an den Tag legen". Zudem rief er eine dreitägige Staatstrauer aus, die ab Samstag gelten soll.

Mit einem nationalen Schulterschluss war es aber nicht weit her. Bei den Anschlägen auf Charlie Hebdo im Jänner 2015 waren in Paris Millionen vereint auf die Straße gegangen; bei den Attentaten des 13. November 2015 hatte die "union sacrée" noch tagelang gehalten. Jetzt griff der konservative Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, die Linksregierung in Paris nur Stunden nach dem Attentat auf der Promenade des Anglais frontal an: Er habe von der Regierung seit langem Verstärkung verlangt, meinte er. Zusätzlich stellte er die Frage, wie der Lastwagen in die geschützte Zone habe gelangen können. "Gab es keinen Sicherheitsbereich?", fragte Estrosi in die Fernsehkameras. "Und wie viele Polizisten waren überhaupt im Einsatz?"

Kritik von Konservativen

Auch der konservative Abgeordnete Georges Fenech bezichtigte die Regierung der "Ohnmacht und Blindheit". "Die Operation Sentinelle (die Militärpatrouillen, Anm.) regelt nichts", kritisierte der Autor eines Parlamentsberichts, der Mängel bei der Terrorfahndung in Frankreich enthüllt hatte. Am Rande der parlamentarischen Anhörung war durch ein Versehen an die Öffentlichkeit gedrungen, dass auch bei den Olympischen Spielen von Rio im August ein Anschlag auf die französische Sportdelegation geplant gewesen sei. Als Urheber soll der Geheimdienst einen Brasilianer eruiert haben. Mehr ist zu diesem vereitelten Anschlagsprojekt allerdings nicht zu erfahren.

In Nizza hatte der Amokfahrer laut Medienmeldungen Zufahrt zur Schutzzone erhalten, weil er dem Wachpersonal vorgegaukelt hatte, er habe Speiseeis zu liefern. Die Polizei untersuchte am Freitag auch seine Wohnung. Sie sprengte ein Paket in einem verlassenen Lieferwagen im Ostteil von Nizza. In welchem Zusammenhang dieser Polizeieinsatz mit dem Terroranschlag stand, wurde vorerst nicht angegeben. Die Ehefrau des Attentäters befand sich am Freitag in Polizeigewahrsam.

Offizielle Angaben zum Hintergrund der Tat gab es bis Freitagabend nicht. Allerdings hatten die Behörden von Nizza schon lange vor Terrorgefahr gewarnt. Unter den 350.000 Einwohnern hatte die Polizei zahllose Jihadisten ermittelt. In einem Fall reiste eine elfköpfige Familie nach Syrien. Im Département Alpes-Maritimes wurden seit den Pariser Attentaten 50 Islamisten festgenommen. Einige planten gerade einen Anschlag auf den berühmten Karneval von Nizza. (Stefan Brändle, red, 15.7.2016)