Istanbul – Für die meisten innenpolitischen Krisen macht Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit längerem die mächtige Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen mitverantwortlich. Erdoğan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, einen Staat im Staate errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Auch in seinem ersten Statement am Freitagabend nach dem Putschversuch sprach Erdoğan Gülen klar an: "Dieses Land kann nicht von Pennsylvania aus regiert werden." Damit sagte Erdoğan, wen er für den Drahtzieher der Ereignisse hält – nämlich den in Pennsylvania wohnenden Gülen.

Die Regierung geht massiv gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor, die sie vor allem bei der Polizei und in der Justiz vermutet. Die Gülen-Bewegung wurde erst Ende Mai von der türkischen Regierung zur Terrororganisation erklärt, viele ihrer führenden Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei.

Charismatischer Prediger

Der heute 75-jährige Gülen hat sich ursprünglich als einflussreicher islamischer Prediger einen Namen gemacht. Bis in die 80er-Jahre hinein wirkte er als Imam in verschiedenen türkischen Städten. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam, über Bildungs- und Wissenschaftsfragen, soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog begeisterte Gülen viele Gläubige. Seine Bewegung Hizmet ("Dienst") sieht einen ihrer Schwerpunkte in der Verbesserung von Bildungschancen.

Seit 1999 lebt der gesundheitlich angeschlagene Prediger im US-Staat Pennsylvania. Er war nach einer Anklage wegen staatsgefährdender Umtriebe emigriert. Erdoğan und Gülen überwarfen sich Ende 2013. Erdoğan führt die Proteste gegen die türkische Regierung im Jahr 2013 auf die Tätigkeit Gülens und seiner Anhänger zurück.

Weltweites Imperium

Außerdem ermittelten – ebenfalls 2013 – Polizisten und Staatsanwälte, die der Gefolgschaft des Predigers zugerechnet werden, gegen den inneren Zirkel des Staatspräsidenten wegen Korruption. Als Reaktion Erdoğans wurden der Gülen-Bewegung nahestehende Unternehmen geschlossen oder übernommen, hunderte Menschen wurden verhaftet. 2014 verhängte ein türkisches Gericht einen weiteren Haftbefehl gegen Gülen. Die türkische Regierung fordert von den USA seine Auslieferung, doch bisher wird dies von Washington ignoriert.

Gülen ist der Kopf eines mittlerweile weltweiten Imperiums mit mehr als 1.000 Privatschulen und Bildungsinstituten in über 140 Ländern. Daneben gehören Zeitungen, Fernsehsender und diverse Firmen zur Gülen-Gruppe.

Über die Art der Ausrichtung der Einrichtungen gibt es unterschiedliche Auffassungen. Viele Beobachter sahen die Gülen-Bewegung zu Beginn als liberal und dialogoffen. Mittlerweile warnen vor allem Menschenrechtsaktivisten vor den missionarischen Absichten der Organisation. (APA, red, 16.7.2016)