Ein Soldat der Spezialeinheit beim heutigen Begräbnis der Opfer des Putschversuchs in Istanbul.

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Der Staub, den der Putschversuch von Teilen der türkischen Armee aufwirbelte, hat sich noch nicht gesetzt, da treibt der Staatschef sein Land schon wieder vor sich her. Tayyip Erdoğan lässt die Behörden – die Justiz zumal – von Tausenden von mutmaßlichen Gegnern oder auch nur Andersdenkenden "säubern". Beides kennt man bereits. Die schnelle Abfolge ist neu. Putschistenland wird Erdoğanland. In dieser Chaos-Türkei sind nach dem einschneidenden Wochenende nun weitere negative, aber auch einige positive Entwicklungen zu sehen.

Erstens: Die Türkei erscheint nach diesem Putschversuch noch schwächer, als sie es vorher schon war. Ein EU-Beitrittskandidat und – wegen seiner Geografie – ein strategischer Nato-Partner hat die Armee nicht im Griff. Panzer, die ausrücken, um das Parlament zu beschießen, geben kein vertrauenswürdiges Bild von einem Land ab, das der Westen im Kampf gegen den "Islamischen Staat" und zur Bewältigung der Flüchtlingskrise braucht. Die Türkei steuert auf eine Ein-Mann-Herrschaft zu und hat bereits Teile der Gewaltentrennung ausgehebelt; doch den Putsch haben Erdoğan und die von ihm dirigierte Regierung augenscheinlich nicht kommen sehen.

Für einen Augenblick zumindest haben die türkischen Parlamentsparteien zu einer ungewohnten Einheit gefunden. Das ist der zweite Punkt: Opposition wie Regierung bekannten sich zur demokratischen Ordnung und gegen den gewaltsamen Sturz einer gewählten Exekutive. Abgeordnete der regierenden konservativ-islamischen AKP und ihre Gegner von der größten Oppositionspartei, die Sozialdemokraten der CHP, suchten gemeinsam Schutz im Parlament vor dem Beschuss durch die Panzer. Das bleibt in Erinnerung, daraus kann eine Zusammenarbeit in anderen Krisensituationen werden.

Zum ersten Mal in der Geschichte der bald 100 Jahre alten türkischen Republik hat sich das Volk gegen putschende Soldaten mit Erfolg gewehrt: Türkische Bürger, die auf Panzer steigen, statt von ihnen überrollt zu werden, sind ein Bild von starker Symbolik. Es wird sich in das nationale Bewusstsein einprägen. Punkt drei.

Staatschef Erdoğan hat – viertens – zugleich auf die bisher fürchterlichste Weise sein Wählervolk auf den Straßen entfesselt: Türkische Männer, die Erdoğans Aufruf gefolgt waren und auf die Straße gingen, haben die Putschisten, deren sie habhaft wurden, nicht nur mit Lederriemen geschlagen und sie erniedrigt. Gebückt und mit entblößtem Oberkörper wie im Osmanischen Reich oder in Unterhosen sind die Soldaten von den Zivilisten der Polizei übergeben worden.

Eine Anzahl dieser Soldaten ist in einem Akt von Selbstjustiz offenbar auch umgebracht worden: totgeprügelt, ertränkt. Für den säkularen oder politisch liberalen Teil der türkischen Gesellschaft, gegen den Erdoğan unablässig agitiert, ist das eine zutiefst schockierende Erfahrung.

Fünftens: Die Verhaftung von Höchstrichtern und Staatsanwälten läutet die vielleicht ultimative Phase der Gleichschaltung in der Türkei ein. Mit dem Putsch hat Erdoğan einen neuen Mythos kreiert. Schon ist der 15. Juli zum Feiertag der Demokratie erklärt worden. Die Bilder vom "Willen des Volks" wird man 2019 zur Genüge sehen. Dann will sich Erdoğan für eine weitere Amtszeit wählen lassen. Doch zuvor mag das Referendum zur Ein-Mann-Verfassung für den Präsidenten kommen. (Markus Bernath, 17.7.2016)