Der türkische Präsident nahm in Istanbul an der Beerdigung eines der Todesopfer teil ...

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... und zeigte auch Tränen.

Istanbul/Riad – Nach dem gescheiterten Putschversuch mit mehr als 290 Toten treibt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Säuberungspolitik trotz internationaler Kritik voran. Dabei zieht er auch eine Wiedereinführung der Todesstrafe in Erwägung, wie er am Sonntag vor Anhängern in Istanbul sagte. Erdoğans Erzrivale Fethullah Gülen will sich indes einem US-Auslieferungsbeschluss beugen. US-Außenminister John Kerry hat bereits zugesichert, ein Auslieferungsgesuch der Türkei prüfen zu wollen.

Der Einsatz der Todesstrafe dürfe nicht verzögert werden, sagte Erdoğan auf entsprechende Zurufe der Menge. Es werde bald Beratungen mit der Opposition über die Wiedereinführung geben. Ministerpräsident Binali Yıldırım deutete ebenfalls an, dass die Todesstrafe wiedereingeführt werden könnte. Lautstarke Forderungen der Menge beantwortete er mit: "Wir haben eure Botschaft erhalten."

EU-Beitrittsverhandlungen

Die Todesstrafe in Kriegszeiten war erst im Jahr 2004 abgeschafft worden, als Voraussetzung für den Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen. Die Todesstrafe in Friedenszeiten wurde 2002 abgeschafft, noch unter Ministerpräsident Bülent Ecevit.

Vollstreckt wurde die Todesstrafe schon seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1984 nicht mehr. Die Europäische Menschenrechtskonvention, deren Mitglied die Türkei ist, ächtet die Todesstrafe. Die Mitgliedschaft in der Konvention gilt als Voraussetzung für einen EU-Beitritt.

Yıldırım ruft zu weiteren Demonstrationen auf

Yıldırım bezeichnete den Freitag, an dem der Militärputsch begann, als "Feiertag der Demokratie". In einer Rede vor Demonstranten in der Hauptstadt Ankara sagte er in der Nacht auf Montag, dass "nach dem 15. Juli nichts mehr wie früher" sein werde.

"Lasst uns diesen Feiertag auskosten", rief Yıldırım vor der Menschenmenge auf dem zentralen Kizilay-Platz. Die Putschisten würden "in strengster Weise zur Rechenschaft gezogen". Wie zuvor Erdoğan forderte auch Yıldırım das Volk auf, sich weiterhin zu versammeln und gegen den Umsturzversuch zu demonstrieren: "Wir werden morgens zur Arbeit gehen und abends weiter auf den Plätzen Wache halten."

Nato-Basis wieder geöffnet

Die türkische Armee verkündete unterdessen das offizielle Ende des Putschversuchs. "Die türkischen Streitkräfte stehen unserem Staat und unserem erhabenen Volk zur Verfügung und sind nun im Dienst", hieß es in einer am Sonntag von der Nachrichtenagentur DHA veröffentlichten und auf mehreren Fernsehsendern verlesenen Erklärung. "Die Verräter wurden ausgeschaltet, noch bevor sie ihr Ziel erreichen konnten", hieß es.

Die Nato-Luftwaffenbasis Incirlik, die nach dem Putsch geschlossen worden war, öffnete am Sonntag wieder für Einsätze der US-geführten Anti-IS-Allianz.

6.000 Festnahmen bis Sonntag

Allerdings kam es noch am Sonntag vereinzelt zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Putschisten. Auf dem Istanbuler Flughafen Sabih Gökcen mussten die regierungstreuen Kräfte Warnschüsse abgeben, um die Putschisten entwaffnen zu können. Auf der Luftwaffenbasis im zentralanatolischen Konya sei es am Sonntag ebenfalls noch zu Zusammenstößen gekommen. Auch dort sei die Lage aber inzwischen unter Kontrolle.

Insgesamt wurden bis Sonntag 6.000 Personen unter Putschverdacht festgenommen, darunter auch ein Berater Erdoğans, Oberst Ali Yizici, sowie ein Berater des Ex-Präsidenten Abdullah Gül. Am Sonntagabend meldete die amtlichen Nachrichtenagentur Andalou, dass nun auch jene Soldaten gefasst worden seien, die eigentlich Erdoğan in seinem Hotel in der Küstenstadt Marmaris aus dem Verkehr ziehen sollten.

Erdoğan will Staat "von diesen Viren säubern"

Erdoğan kündigte ein gnadenloses Vorgehen gegen die Anhänger Gülens an, dessen Auslieferung er von den USA fordert. "In allen Behörden des Staates wird der Säuberungsprozess von diesen Viren fortgesetzt. Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen."

Diplomat in Saudi-Arabien festgenommen

Auf Ansuchen aus Ankara wurde unterdessen ein türkischer Diplomat bei einer Zwischenlandung in Saudi-Arabien festgenommen. Der an der Botschaft in Kuwait stationierte türkische Militärattaché habe nach Düsseldorf fliegen wollen, berichtete der Sender Al-Arabiya am Montag unter Berufung auf saudische Quellen. Bei einer Zwischenlandung seines Passagierflugzeugs in Damman im Osten Saudi-Arabiens sei der Offizier festgesetzt worden. Eine offizielle Erklärung aus Saudi-Arabien gab es dazu nicht.

Teile der Armee hatten am Freitagabend einen Putsch gestartet, der jedoch schon in der Nacht zusammenbrach. Wie es in einer aktualisierten Bilanz am Sonntag hieß, wurden dabei 190 Zivilisten und Polizisten und 100 Putschisten getötet. Mehr als 1.400 Menschen seien verletzt worden.

Kurz: "Klare Grenzen aufzeigen"

International wuchs die Kritik am Vorgehen Erdoğans. Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault sagte, es gebe keinen "Blankoscheck" für "Säuberungsaktionen". Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) kündigte an, beim EU-Außenministerrat am Montag darauf zu drängen, "dass Europa Erdoğan ganz klare Grenzen aufzeigt". "Denn der gescheiterte Putsch darf kein Freibrief für Willkür sein." Die Wiedereinführung der Todesstrafe sei "absolut unakzeptabel".

In Deutschland sagte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, Erdoğan "missbraucht den gescheiterten Putsch als Vorwand, um den türkischen Staatsapparat von Gegnern der AKP zu säubern". (APA, red, 18.7.2016)