Immer mehr Bilder von Misshandlungen von Soldaten, die sich am Putsch beteiligt haben, durch Zivilisten wie hier in Istanbul werden veröffentlicht. Im Zorn über den Putschversuch will die Regierung nun auf Rufe nach Wiedereinführung der Todesstrafe erstnehmen.

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Die EU setzt nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei und den von Präsident Tayyip Erdogan angeordneten Massenfestnahmen vorerst einmal auf Abwarten.

Beim Treffen der EU-Außenminister in Brüssel, an dem auch US-Außenminister John Kerry teilnahm, mahnte die Außenbeauftragte Federica Mogherini am Montag die Einhaltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ein. Zu Überlegungen Erdogans in Bezug auf die Einführung der Todesstrafe erklärte sie unmissverständlich: "Kein Land kann EU-Mitglied werden, wenn es die Todesstrafe einführt." Auch die deutsche Regierung erklärte, sie lehne die Todesstrafe "kategorisch" ab, sie wären das Ende der Beitrittsverhandlungen.

Dennoch ist keine Rede davon, dass das Vorgehen der türkischen Regierung Konsequenzen der EU nach sich zieht. Im Gegenteil: Die EU-Kommission betonte am Montag, dass die Zusammenarbeit mit der Regierung in Ankara zur Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens in der Migrationspolitik weitergehe. Auch an den Plänen zur Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen, die im März beim Türkeipakt vereinbart wurde, scheint nicht gerüttelt zu werden.

Mogherini erinnerte daran, dass die Türkei sich als Mitglied des Europarats an die Menschenrechtskonvention zu halten habe. Die EU-Außenminister betonten, dass die festgenommenen Militärs und Richter nach rechtstaatlichen Prinzipien zu behandeln seien.

"Kein Freibrief für Willkür"

Der Putschversuch dürfe "kein Freibrief für Willkür" sein, sagte Außenminister Sebastian Kurz, die Massenverhaftungen seien inakzeptabel. Sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault warnte vor einem Rückschritt in der Demokratie, da müsse die Union aufpassen. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn brachte auf den Punkt, was sich im Ton einer Türkei-Erklärung wiederfinden sollte: Die Union sei gut beraten, "nicht mit Emotionen zu reagieren". EU-Nachbarschafts- und Erweiterungskommissar Johannes Hahn äußerte den Verdacht, dass zur Verhaftung von kritischen Richtern schon vor dem Putsch "eine Liste vorbereitet" wurde.

Für Mäßigung sprach sich auch Kerry aus. Er betonte, dass die Betreiber des Umsturzes gemäß den rechtsstaatlichen Regeln zur Verantwortung gezogen werden sollten, warnte aber vor "exzessiven Maßnahmen". Der US-Außenminister erinnerte die Führung in Ankara daran, dass Washington jederzeit die Legitimität der demokratisch gewählten Regierung verteidigt habe. Zu der von Erdogan geforderten Auslieferung seines Rivalen Fethullah Gülen sei bisher kein Antrag gestellt worden, sagte John Kerry.

"Wir wollen die Todesstrafe!"

Doch in der Türkei will das Volk Köpfe rollen sehen. Zumindest jenes Volk, das vor Tayyip Erdogans Privathaus in Üsküdar zieht, um den Staatschef reden zu hören, einen Tag nach dem Putschversuch. Auch bei einer Trauerfeier für Opfer des gescheiterten Militärcoups in Istanbul, an der der türkische Präsident teilnimmt, unterbrechen Zwischenrufer immer wieder: "Intikam!", hört man, "Rache", und "idam isteriz!" – "Wir wollen die Todesstrafe!"

Erdogan gibt vor seinen Zuhörern eine Antwort wie einst General de Gaulle in Algier gegenüber den Rufen der französischen Kolonisten. "Ich habe euch verstanden", antwortete de Gaulle zweideutig, tat dann das Gegenteil von dem, was die Algerien-Franzosen erwartet hatten, und entließ Algerien in die Unabhängigkeit.

Man müsse auf das Volk hören, sagt Erdogan vor dem Eingang seiner Residenz in Üsküdar am vergangenen Sonntag. Doch der türkische Staatschef nimmt den Wunsch seiner Wähler – "meine Brüder" – nach der Wiedereinführung der Todesstrafe offenbar ernst.

Erst 2002 abgeschafft

"Unsere Regierung wird das mit der Opposition beraten", verspricht Erdogan. Aber er schränkt auch ein, eine solche Entscheidung könne man nicht so schnell treffen.

2002 hatte das türkische Parlament die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten beschlossen. Damals regierte noch eine Koalitionsregierung, die von dem Sozialdemokraten Bülent Ecevit geführt wurde. Sein Koalitionspartner war der rechtsgerichtete Nationalist Devlet Bahceli, der heute noch seine Partei, die MHP, führt. Bahceli und seine Gefolgsleute waren strikt gegen die Abschaffung der Todesstrafe, die damals Abdullah Öcalan treffen sollte, den inhaftierten Gründer der kurdischen Untergrundarmee PKK. Doch um der Kandidatur zum EU-Beitritt willen gaben auch die Nationalisten nach. Der Europarat unter Führung des damaligen Generalsekretärs Walter Schwimmer feierte den Beschluss als einen Schritt zur "engeren Integration mit der Familie der europäischen Demokratien".

Debatte flammte schon oft auf

Erdogans konservativ-islamische Partei AKP gewann nur Monate später, im November 2002, die Wahlen und ist seither an der Macht. Sie schaffte 2006, nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen, auch die Todesstrafe in Kriegszeiten ab. Doch die Debatte um die Wiedereinführung begann bald wieder in der Türkei. Erdogan und der Nationalisten-Führer Bahceli stritten 2007 darum, wessen Fehler es war, dass Öcalan 1999 nicht hingerichtet worden war.

Beide Politiker buhlen weitgehend um dieselbe Wählerklientel. Fünf Jahre später, während eines Hungerstreiks kurdischer Aktivisten in den Gefängnissen, der die Regierung unter Druck brachte, trat Erdogan erneut eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe los: "Wir sollten das überdenken." Geschehen ist das dann doch nicht. Eine Gesetzesänderung würde nun auch nicht rückwirkend auf die verhafteten angeblichen Putschisten angewandt werden können. (Thomas Mayer aus Brüssel, Markus Bernath aus Istanbul. 18.7.2016)