Mit der antiretroviralen Therapie lässt sich die Virus-Last unter die Nachweisgrenzen bringen. "Ein wirkliches Heilmittel zu finden, wird sehr schwierig werden", sagte die Nobelpreisträgerin Barre-Sinoussi.

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Durban – Trotz aller Präventionsmaßnahmen ist im vergangenen Jahrzehnt die Zahl der HIV-Neuinfektionen in 74 Ländern gestiegen. Darunter sind Ägypten, Kenia und Russland, wie aus einer am Dienstag anlässlich der Welt-Aids-Konferenz veröffentlichten Studie im Fachmagazin "The Lancet HIV" hervorgeht.

Weltweit gesehen ist die Zahl der Neuinfektionen von 2005 bis 2015 um 0,7 Prozent zurückgegangen. Von 1997 bis 2005 betrug der Rückgang noch 2,7 Prozent.

"Diese Studie zeigt, dass die Aids-Epidemie keineswegs überstanden ist", sagte der Leiter der renommierten London School of Hygiene and Tropical Medicine, Peter Piot. "HIV/Aids bleibt eine der größten Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit unserer Zeit." Weltweit gab es der Studie des Netzwerkes "Global Burden of Disease" zufolge im vergangenen Jahr 2,5 Millionen neue Infektionen. Die Vereinten Nationen (UN) gehen von 2,1 Millionen Neuinfektionen aus.

Problemgebiete: Naher Osten, Nordafrika und Osteuropa

Experten beklagten die "langsamen Fortschritte bei der Reduzierung der HIV-Infektionen". Die Entwicklung könne sich durch "stagnierende" Bereitstellung von Finanzmitteln im Kampf gegen HIV und Aids noch verschärfen, warnten die Wissenschafter des Forschungsinstituts IHME in Seattle in ihrer am Dienstag veröffentlichten Untersuchung.

Drei Viertel der neu registrierten Infektionen im Jahr 2015 traten demnach in afrikanischen Ländern südlich der Sahara auf. In Europa wurden in Russland (57.340 Fälle) und der Ukraine (13.490) die meisten Neuinfektionen verzeichnet. In 74 Ländern stieg nach Angaben der Studie in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Neuinfektionen, unter anderem in Indonesien, den Philippinen, in Nordafrika und dem Nahen Osten.

Insgesamt tragen nach Angaben der Wissenschafter derzeit 38,8 Millionen Menschen weltweit das Virus in sich. Dank der Behandlung mit antiretroviralen Arzneimitteln (ARV) habe sich die Zahl der Aids-Toten seit 2005 von 1,8 Millionen jährlich auf 1,2 Millionen verringert. Inzwischen erhalten 41 Prozent der Patienten eine solche lebensverlängernde Therapie. Im Nahen Osten, in Nordafrika und Osteuropa müsse die Behandlung aber intensiviert werden, forderten die Forscher.

Kein Heilmittel in Sicht

Die rasche Zunahme an Geldern für die Forschung zu einem HIV-Heilmittel darf nicht zu Lasten von Prävention und Behandlung von HIV-positiven Menschen gehen. Das betonte die Nobelpreisträgerin Francoise Barre-Sinoussi, die an der Entdeckung des HI-Virus beteiligt war, auf der Welt-Aids-Konferenz. "Wir können noch nicht sagen, ob oder bis wann wir ein Heilmittel haben werden."

Entscheidend seien nach wie vor die Prävention neuer Infektionen und die kontinuierliche Behandlung HIV-positiver Menschen.

Die Forschungsgelder für Medikamente, welche die HIV-Infektion ausheilen könnten, hätten sich innerhalb weniger Jahre auf zuletzt 200 Millionen US-Dollar (180,95 Mio. Euro) pro Jahr verdoppelt. Der Großteil der Untersuchungen konzentriert sich darauf, den HI-Virus im Körper soweit zu hemmen, dass keine laufende Behandlung mehr nötig ist. Patienten sind zwar weiter HIV-positiv, die Virus-Last kann aber in Schach gehalten werden. "Ein wirkliches Heilmittel zu finden, wird sehr schwierig werden", sagte Barre-Sinoussi.

Kritik an Europas Weg

Die Welt-Aids-Konferenz bringt etwa 18.000 Forscher, Aktivisten und Regierungsvertreter aus rund 180 Ländern zusammen. Weltweit sterben jährlich 1,1 Millionen Menschen an der vom HI-Virus ausgelösten Immunschwächekrankheit Aids, vor allem in Afrika. Pro Jahr gibt es weltweit rund 2,1 Millionen HIV-Neuinfektionen. Die Weltgemeinschaft hat sich im Juni in New York auf das Ziel verständigt, die Aids-Epidemie bis 2030 zu beenden. Es wird aber stark daran gezweifelt, ob dieses Ziel noch erreicht werden kann.

Die HIV-Expertin Annemarie Wensing machte in Durban der Europäischen Union schwere Vorwürfe. Die Staatengemeinschaft vernachlässige die Forschung zu einem HIV-Heilmittel, sagte die Wissenschafterin, die an der niederländischen Universität Utrecht arbeitet. In Europa werde HIV inzwischen als behandelbare chronische Krankheit abgehakt. Fast alle Gelder für den Forschungsbereich kämen aus den USA. "Die Europäer denken, wir hätten HIV unter Kontrolle", sagte sie. (APA, dpa, red, 19.7.2016)