Flüchtende Passanten vor einem Gerichtsgebäude in Ankara in den Tagen unmittelbar nach dem Putschversuch.

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In der Türkei überschlagen sich die Ereignisse. In atemberaubendem Tempo fallen Regierungsbeschlüsse, mit denen grundlegende Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden. Die Ankündigung, die Todesstrafe wiedereinführen zu wollen und die europäische Menschenrechtskonvention auszusetzen, sind nur herausstechende Beispiele.

Recht auf freie Meinungsäußerung? War einmal. Auf Grundlage von Listen mit Personen, die Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdoğan übten, wurden tausende Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Polizisten, Journalisten und Wissenschafter festgenommen, verhaftet, entlassen, angeklagt. Datenschutz? Mitnichten. Die Listen standen offenbar schon seit langem bereit.

Abgelichtete Prügelmale

Recht auf faire Verfahren? Sicher nicht. Die am Tag nach der Putschniederschlagung nach ersten Verhören aufgenommenen Fotos führender Armeeangehöriger, die den Putschversuch gegen Erdoğan organisiert haben sollen, zeugen vom krassen Gegenteil: Die sichtbaren Schrammen, Hämatome, behelfsmäßigen Verbände lassen auf Prügel und Folter schließen.

Reisefreiheit? Für Uni-Angestellte und anderes akademisches Personal nicht mehr. Sie werden vielmehr gezwungen, in der Türkei zu bleiben: Landesgrenzen als Gefängnismauern, wie einst in der Sowjetunion. Und dem nicht genug: Türkische Akademiker, die im Ausland leben, sollen ins Land zurückgeholt werden.

Zittern vor mehr Flüchtlingen

Doch so stark die Repressionswelle in der Türkei ist, so zurückhaltend ist die Reaktion in Europa. Wohl vor allem aus Angst vor einem Außerkraftsetzen des Flüchtlingsaufhalteabkommens durch die türkische Seite halten sich die Repräsentanten von Regierungen, die die Menschenrechte in Reden gern für sich reklamieren, beschämend bedeckt. Denn ohne türkische Kooperation könnte der Strom von Nahost-Flüchtlingen in die EU wieder einsetzen.

Zwar wird auf diplomatischem Weg urgiert und protestiert. Aber hat bisher ein einziger EU-Repräsentant oder Repräsentant einer Regierung innerhalb der Union den von Verfolgung betroffenen oder bedrohten Erdoğan-Oppositionellen offen seine oder ihre Unterstützung versichert? Nein.

Klassische Verfolgungsgründe

Das nämlich würde voraussetzen, dass man bereit wäre, oppositionellen Türkinnen und Türken im Fall des Falles Schutz zu gewähren. Im Klartext: Asyl – zumal etliche, die da kommen könnten, geradezu klassische Verfolgungsgründe (= politische Verfolgung) aufweisen würden.

Doch fast scheint es, dass man in Europa inzwischen auch vor dem Konzept politisches Asyl zurückschreckt. Wohl weil den (in den meisten Ländern) noch regierenden moderaten Kräften keine Alternative zu umfassender Flüchtlingsfernhaltung einfällt, um (vielleicht) einen weiteren Aufstieg der Rechten zu verhindern. Sollten die Dinge tatsächlich schon so weit gediehen sein: gute Nacht, Europa! (Irene Brickner, 22.7.2016)