Was hilft im Sturm des Wandels?

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Psychotherapeut Jürgen Kriz über die notwendige Auseinandersetzung mit sich selbst für eine sinnhafte Ausgestaltung der Arbeits- und Lebenswelten.

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Psychotherapeut Jürgen Kriz über die notwendige Auseinandersetzung mit sich selbst für eine sinnhafte Ausgestaltung der Arbeits- und Lebenswelten. Kriz ist Emeritus für Psychotherapie und klinische Psychologie an der Uni Osnabrück und Viktor-Frankl-Preisträger der Stadt Wien.

STANDARD: Wie wirken all die Entwicklungen der vergangenen Jahre auf die individuelle und die kollektive Stabilität?

Kriz: Es verunsichert. Diese Verunsicherung ist politisch, gesellschaftlich und beruflich deutlich zu spüren. Die wirtschaftliche Entwicklung ist ein zentraler Punkt dabei. Werte wie Effektivität, Leistung und Qualität sind heute Parameter in ökonomischen Optimierungsprozeduren, die in der Berufsausübung immer mehr bedrängen, weil sie mit den menschlichen Bedürfnissen nicht mehr in Einklang stehen. In diese Diskrepanz spielt auch die problematische Aushöhlung eines überkomplexen Rechtssystems hinein. Unter anderem durch zwar juristisch korrekte, dennoch gleichwohl als ungerecht empfundene Verfahrenstricks, unverkennbar am Zeitgeist orientierte Urteilsfindungen und ein erkennbares Messen mit zweierlei juristischem Maß. Und natürlich auch die rasante Entwicklung der Informationstechnologien. Sie beeinflusst das politische und ökonomische System, und, in den individuellen Auswirkungen noch unmittelbarer, sie bringt völlig neue Erwartungen an den Einzelnen mit sich. Beispielsweise die Erwartung jederzeitiger, bis in den Urlaub hineingehender ständiger Erreichbarkeit auf beruflicher Ebene. Oder, auf privater Ebene, die zunehmende Unverbindlichkeit der Beziehungen. Stehen die Tausenden von "Freunden" in den sozialen Netzwerken doch nicht unbedingt für Freundschaft, Sicherheit, Stabilität und Zuversicht, sondern eher für einen Zwang zum Mitmachen, der nicht selten auf Kosten wirklich stabilisierender, realer Beziehungen geht. All das ist deswegen so problematisch, weil der Mensch gerade in unserer verunsichernden Zeit des weltweiten Umbruchs einer sicheren Rahmung bedarf. Menschen können ein beachtliches Stressaufkommen bewältigen, wenn sie das Empfinden haben, in ihren Bedürfnissen berücksichtigt und bei den Veränderungen "mitgenommen" zu werden. Der Mensch braucht eine sinnhafte Orientierung in der Welt. Ist ein solcher Sinn nicht fassbar und werden all die undurchschaubaren Vorgänge in hochkomplexen Organisationssystemen als sinnlos empfunden, dann schafft sich der Mensch einen "Ersatzsinn", am erkennbarsten durch die Übernahme radikaler, aber einfacher Sicht- und Erklärungsweisen.

STANDARD: Wie wäre das Blatt zu wenden?

Kriz: Die rasanten Wandlungsprozesse der globalisierten Welt können ebenso wenig zurückgedreht werden wie deren Komplexität. Also geht es darum, den Menschen die verlorene Orientierung Sicherheit und Sinngebung zurückzugeben, die in den anonymen Großinstitutionen, zweckrational durchökonomisierten, "optimierten" und dadurch undurchschaubar und unverständlich gewordenen Prozessen in den Betrieben und Verwaltungen abhandengekommen sind. Dazu muss den Menschen das Gefühl vermittelt werden, wieder ernst genommen zu werden. Menschen ernst zu nehmen heißt: offene Kommunikation bis ins Kontroverse und in den direkten Widerspruch hinein; die Achtung vor der anderen Meinung statt Belehrung, Bevormundung, politischer Korrektheit und Stigmatisierung Andersdenkender; die Entschleierung der Entscheidungsprozesse und deren Entideologisierung. Nicht zuletzt ist es ja auch das verunsichernde, in die Resignation treibende und im Weiteren dadurch auch die Gesundheit beeinträchtigende Erleben, dass volks- wie betriebswirtschaftliche Entscheidungen wolkigen Annahmen, diffusen Hoffnungen und vor allem auch Machtkonstellationen folgen anstatt dem tatsächlich Gebotenen und sachlich Begründeten. "Das verstehe ich nicht mehr" ist immer ein Vorläufer des "Ich kann nicht mehr" und "Ich will nicht mehr". Arbeiten ohne innere Anteilnahme, Anwesenheitsbezeugung ohne Überzeugung, also die vielfach beklagte betriebliche Realität, ist das, was dabei herauskommt, wenn eine Reorganisation bereits der Startschuss für die nächste ist; wenn nicht mehr der Sachverstand der Führungs- und Fachkräfte, sondern das gerade Angesagte der Unternehmensberatungen den Betrieb führt; wenn Unternehmen gekauft und verkauft werden, wie es für Beteiligungsgesellschaften just opportun ist.

STANDARD: Und das ist fühlbar, auch wenn es nicht formuliert wird ...

Kriz: Menschen spüren sehr genau, ob Maßnahmen dem Gesamtwohl dienen, durchaus einschließlich angemessener Gewinne, ob sie in ihren Fähigkeiten und Erfahrungen trotz der oft damit verbundenen Eigenwilligkeiten gewünscht werden oder ob sie lediglich Versatzstücke, beliebig austauschbare Faktoren in abstrakten Profitmodellen darstellen. Das sind Aspekte, die weit mehr berücksichtigt werden sollten, mit denen die zwangsläufige Verunsicherung durch die Lebenswelten im Umbruch erträglicher und auch schöpferischer gemacht werden könnte.

STANDARD: Was besagt das bezogen auf das persönliche Verhalten?

Kriz: Die hohe Bedeutung der sozialen Netzwerke, das ständige Eingebundensein in oberflächliche Interaktionsprozesse und die damit erzeugte Pseudogemeinsamkeit mit gleichzeitig hohem Normativitätsdruck erschweren die Besinnung auf das eigene Selbst und dessen flexible Ausdifferenzierung. Aber genau das wäre das ganz persönliche Gegengewicht gegen die Verunsicherung durch die Lebenswelten im Umbruch mit all ihren fragwürdigen Auswirkungen. Wer sich über sich selbst, seine Werte und Ziele, seine Stärken und Schwächen, seine Vorlieben und Abneigungen hinreichend im Klaren ist – und dies hin und wieder überprüft und lebensgeschichtlich adäquat nachjustiert -, ist auf Wandel und Umbrüche weit besser vorbereitet, als wenn man irgendwelchen äußeren Normen und Vorgaben folgt.

STANDARD: Der daraus entstehende Denkanstoß des Therapeuten?

Kriz: Sofern Therapeuten einmal von der Reduktion "krankheitswertiger Störungen" absehen, finden Sie über alle Richtungen hinweg eine beachtliche Einhelligkeit: Es geht um eine erkundende Auseinandersetzung mit sich selbst. Eine sinnhafte Ausgestaltung der Lebenswelt – wobei Sinn eben nicht von außen vorgegeben, sondern selbst immer wieder errungen werden muss – ist bekanntermaßen ein zentraler Faktor für die psychische und aus der Wechselwirkung von Seele und Körper heraus auch die somatische Gesundheit. Die damit verbundene adaptive Flexibilität der Ausgestaltung in der Beziehung vom "Selbst" und den jeweiligen Gegebenheiten der Umwelt ist eine gute Basis, auch größere Umbrüche gut bewältigen zu können. Dazu gehört auch die Einsicht, dass viele Umbrüche ohnedies mit Entwicklungsaufgaben und -möglichkeiten verbunden sind. Dies lässt sich – zumindest teilweise – selbst unter ungünstigen äußeren Umständen nutzen: Indem man klar Rechenschaft darüber ablegt, inwieweit man die neuen Gegebenheiten vielleicht auch für sich nutzen oder in seinem eigenen Bereich verändern kann – oder ob ein Wechsel in andere Kontexte, zum Beispiel ein Firmenwechsel oder eine weitergehende berufliche Umorientierung, angezeigt ist.

STANDARD: Warum fällt es so schwer, sich dieser Einsicht zu beugen?

Kriz: Gerade bei als bedrohlich erlebten äußeren Veränderungen greift noch einmal mehr das, was unsere Lebenswelt im Alltag stabilisiert: Die unfassbare Vielfalt der Reizwelt wird auf eine fassbare Rezeptionswelt reduziert. Weniger akademisch: Wir vereinfachen und reduzieren das, was auf uns einströmt, zu sinnvollen Kategorien und Ordnungen. Dabei greifen wir notfalls sogar zu sehr drastischen Vereinfachungen. "Sinnvoll" aber ist besonders das, was sich bisher – scheinbar – bewährt hat, was vertraut ist, was wir kennen. Damit ergibt sich allerdings ein Widerspruch: Denn veränderte Bedingungen verlangen eigentlich, dass wir auch das Bekannte und Vertraute in unseren Verstehens- und Verhaltensweisen verändern und an die neuen Gegebenheiten anpassen. Das gelingt besonders gut dann, wenn wir uns ansonsten sicher fühlen – nur dann sind wir bereit, Aspekte des Bisherigen zur Disposition zu stellen und zu hinterfragen. Doch gerade wenn wir uns vom Neuen bedroht fühlen, sind wir zu solchen kreativen Nachjustierungen nicht in der Lage, sondern halten krampfhaft am Alten fest. Bei Therapie, Beratung und Coaching gibt es für Veränderungen beispielsweise das Konzept der "angemessenen Verstörung": Veränderung ist nur durch Verstörung des bisher Überkommenen möglich – allerdings funktioniert dies nur dann, wenn sie eben "angemessen" ist, das heißt eher als interessante Herausforderung und neue Möglichkeit betrachtet werden kann und nicht so groß ist, dass sie als Bedrohung wahrgenommen wird. Denn dann reagieren wir mit dem Gegenteil: Zum Selbstschutz greifen wir auf die alten Muster zurück und verteidigen diese gegen Bedrohung – selbst dann, wenn wir "eigentlich" wissen, dass sie unzureichend sind. Wendet man diesen Grundgedanken auf die gegenwärtigen Veränderungen an, so könnte man sagen, dass diese von vielen als "unangemessene Verstörung" erlebt werden: Es wird zu inadäquaten, rigiden, reduzierenden Strategien gegriffen. Und deren – zu erwartendes – Versagen vergrößert dann Frust und Verunsicherung. (Hartmut Volk, 26.7.2016)