Trauer in Nizza, Vorwürfe gegen die Regierung in Paris.

Foto: AFP / Valery Hache

Eine Woche nach dem Anschlag von Nizza, bei dem 84 Menschen ums Leben kamen und über 300 verletzt wurden – zwölf schwebten am Freitag noch in Lebensgefahr -, stellt sich Frankreich immer noch die Frage: Wie konnte ein Lastwagen am Nationalfeiertag in die Sperrzone an der Promenade des Anglais eindringen?

Die Zeitung "Libération" wirft Innenminister Bernard Cazeneuve vor, seine Behauptung, die nationale und bewaffnete Polizei habe den Zugang zur Strandpromenade abgeschottet, sei eine "Lüge". Auf Fotos der Zeitung sind in der Tat nur zwei unbewaffnete Gemeindepolizisten zu sehen, wie sie den Verkehr vor leichten Metallgittern umleiten.

Cazeneuve bleibt bei seiner Darstellung, bestellte aber bei der Kontrollbehörde IGPN einen "unabhängigen" Bericht. Staatschef François Hollande sprach dem Innenminister, der seit den ersten Anschlägen im Jänner 2015 nach allgemeiner Einschätzung mit Bedacht zu Werke gegangen ist, am Freitag sein Vertrauen aus.

Rechtliche Folgen

Die Frage ist juristisch von Bedeutung: Mehrere Opfer haben bereits angekündigt, sie würden vom Staat wegen ungenügender Schutzmaßnahmen bei dem Feuerwerk Schadenersatz verlangen. Die rechte Opposition unterstellt der Regierung seit dem Anschlag generell schwere Versäumnisse bei der Terrorbekämpfung.

Zur Debatte steht darüber hinaus das ganze Sicherheitsdispositiv Frankreichs. Vielenorts heißt es nun, es nütze nichts, den Ausnahmezustand im Land zu verlängern und 10.000 Soldaten für Patrouillen aufzubieten, wenn die Attentäter im entscheidenden Moment trotzdem eine Lücke fänden. Premierminister Manuel Valls meinte diese Woche vor dem Parlament, totale Sicherheit könne es nicht geben. Dies wurde ihm vom konservativen Präsidentschaftsfavoriten Alain Juppé sogleich als "Fatalismus" ausgelegt.

Auf jeden Fall handelte der Attentäter nicht allein und auch nicht spontan. Am Freitag wurde gegen fünf mutmaßliche Komplizen, die in der Zwischenzeit in Nizza verhaftet worden sind, ein formelles Ermittlungsverfahren eingeleitet. Laut dem Staatsanwalt haben die beiden Albaner und drei Frankotunesier aktiv mitgeholfen, den Anschlag über Monate hinweg vorzubereiten.

"Held von Nizza"

Während die Regierung in Paris unter Druck bleibt, feiert Frankreich seinen "Helden von Nizza". Franck, wie der wohl etwa 50-jährige Einwohner Nizzas von den Lokalmedien nur beim Vornamen genannt wird, war mit seiner Frau auf seinem Roller verspätet zum Feuerwerk unterwegs, als ihn der Lastwagen überholte. Ohne zu überlegen, setzte der Flughafenangestellte seine Frau ab und dem Schwertransporter nach, als er mitansehen muss, wie dieser gezielt Passanten umfuhr.

Franck setzte dem Laster nach und musste zwischen den Passanten und den Toten "Slalom fahren", um den Laster zu verfolgen. Auf einer Videokamera ist zu sehen, wie der Scooter umstürzt. Dann rannte Franck weiter, stürzte, raffte sich auf, und rannte weiter bis zur Führerkabine. Dort sprang er auf das Trittbrett und schlug durch das offene Wagenfenster auf den Lasterfahrer ein. "Ich schlug und schlug und schlug", erklärte er nun Nice-Matin. "Ich war wie in Trance, aber zugleich völlig klarsichtig." Der Chauffeur habe ihn kalt angeblickt und kein Wort gesagt; er war wohl gerade am Laden der Pistole, sodass er nicht schießen konnte; doch schlug er mit dem Griff auf Franck ein, bis dieser den Versuch, ihn aus dem Fenster zu ziehen, aufgeben musste und stürzte.

Womöglich brachte dieser Einsatz den Attentäter von seiner rasenden Fahrt ab und ermöglichte den Polizisten, ihn mit ihren Schüssen ganz zu stoppen. Franck erlitt einen Rippenbruch und wurde an einer Kopfwunde genäht. Ohne sich brüsten zu wollen, sagte er: "Ich war bereit zu sterben", als würde er sich rückblickend selbst über sich wundern. (Stefan Brändle aus Paris, 22.7.2016)