Der Erlöser braucht auch Urlaub: Ryan McKinny als Amfortas (Zweiter v. re.) in Uwe-Eric Laufenbergs: Neudeutung des "Parsifal", der in ein überkonfessionelles Ende mündet.

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Friedrich Nietzsche werden unter anderem folgende zwei Sätze zugeschrieben: "Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese." Da war der Mann doch schon einmal auf einem guten Weg. Satz zwei: "Wagner hätte, nach dem Verbrechen des Parsifal, nicht in Venedig, sondern im Zuchthaus sterben sollen."

Nun ist Wagners musiktheatralischer Abschluss so ziemlich das Gegenteil von lässig. Als Endpunkt eines "ins Mystisch-Zeremonielle verbleichenden Lebenswerks" beschrieb Thomas Mann den Parsifal. Man trifft unter anderem auf einen Zauberer und Zuhälter, der sich selbst kastriert hat, auf eine schrille Nymphomanin, die zur servilen Variante einer Maria Magdalena ergraut, auf einen "liebessiechen Oberpriester, der auf die Erlösung durch einen keuschen Knaben harrt" (wieder Thomas Mann), und auf diesen selbst.

Wenn man dieses weite, zwischen den Polen von Schuld und Reue aufgespannte Konstrukt des sexualmoralischen Irrsinns betrachtet, wundert es kaum, dass die Beschäftigung mit diesem zu bizarren Reaktionen führt. Für die Parsifal-Regie wurde erst Jonathan Meese verpflichtet und dann wieder von dieser Verpflichtung entbunden. Dem geplanten Dirigenten, Andris Nelsons, behagte die Entwicklung der Atmosphäre bei den Proben nicht – von einem Kurzurlaub fand er nicht mehr auf den Grünen Hügel zurück. Musikdirektor Christian Thielemann wähnte sich unverantwortlich für atmosphärisch Störendes.

Als Ersatz für Nelsons wurde auf die Schnelle Hartmut Haenchen engagiert, und das war keine schlechte Wahl. Der 1943 in Dresden geborene Dirigent mit reicher Parsifal-Erfahrung hat akribisches Quellenstudium betrieben und bei dem von ihm eingerichteten Notenmaterial auch die Eintragungen von Wagners Assistenten berücksichtigt. So hörte man bei der Premiere einen Parsifal ohne Heiligenstarre, frisch, nuanciert und gehaltvoll. Das von Haenchen geleitete Bayreuther Festspielorchester wurde zum Herz der Aufführung, musizierte mit Innigkeit, perfekt abgemischten Klangfarben und satter Glut. Herausragend auch die Damen und Herren des Festspielchors (Einstudierung: Eberhard Friedrich).

Konventionelles Regietheater

Die Solisten reichten an die Klasse des Chors nicht ganz heran: Georg Zeppenfeld, der am lautesten Gefeierte, sang den Gurnemanz zwar beispielhaft wohlklingend, agierte aber mit der Lebendigkeit einer Litfaßsäule. Die brav singende Elena Pankratova ließ als Kundry jeden Irrsinn missen, die alte humpelnde Dienstmagd im dritten Aufzug gab die Russin erstklassig. Klaus Florian Vogt überzeugte als etwas eintöniger Parsifal nicht so sehr wie als Lohengrin, die geschmeidige, lichte Höhe seines Tenors kam in dieser Partie kaum zum Leuchten. Nobel und dringlich leidend der Amfortas von Ryan McKinny, wohl der durchtrainierteste Sieche ever. Eine Autorität auch Amfortas' Papa Titurel (Karl-Heinz Lehner).

Nach dem Assoziationsbilderstrudel Christoph Schlingensiefs des Jahres 2004 und Stefan Herheims Unterricht in deutscher Geschichte (2008) ist bei Uwe-Eric Laufenbergs Neudeutung des Parsifal konventionelleres Regietheater angesagt. Er siedelt das Geschehen im kriegsgebeutelten Nahen Osten an. Zu Beginn sieht man Flüchtlinge bei den Gralsrittern, Soldaten streifen umher. Bei der Enthüllung des Grals wird der jesusgleiche Amfortas angeritzt, die Ritter laben sich an seinem Blut.

Klingsors Zauberreich ähnelt einem orientalischen Bade, die Blumenmädchen tragen schwarze Burkas, entledigen sich deren aber recht bald, um mit glitzernden Bauchtänzerinnen-Outfits zu becircen (Bühne: Gisbert Jäkel, Kostüme: Jessica Karge). Und Parsifal fängt den Speer nicht nur, sondern zerbricht ihn und bildet aus den zwei Teilen ein Kreuz. Ja mei.

Die Schlussidee ist aber gut: In einem überkonfessionellen Finale mit Juden, Moslems und Christen werfen bei der Enthüllung des Grals alle ihre religiösen Symbole in Titurels Sarg und ziehen von dannen. Laufenberg deutet Wagners finale Parole "Erlösung dem Erlöser" so, dass dieser – sei es Jesus, Amfortas oder sonst wer – doch endlich mal vom Erlösenmüssen erlöst werden müsste. Urlaub für den Heiland! Steig herab vom Kreuz, Jesus, mach mal Pause! Oder, um es mit den Worten des Dalai Lama zu sagen, der im Programmheft zitiert wird: "Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten." Ein lässiges Statement. Amen. (Stefan Ender aus Bayreuth, 26.7.2016)