Das UNHCR, der "Hüter" der Genfer Flüchtlingskonvention, ist auch im Flüchtlingslager Elliniko in Athen aktiv.

Foto: AFP / Louisa Gouliamaki

Wien – 65 Jahre ist ein reifes Alter. Österreichische Männer dürfen sich dann guten Gewissens in die Pension verabschieden. Und es gibt nicht wenige, die auch die ebenso alte Genfer Flüchtlingskonvention in den Ruhestand schicken wollen. Das betrifft nicht mehr nur rechtspopulistische Politiker. In Österreich etwa haben Obergrenzen bei Asylanträgen oder die Kürzung der Mindestsicherung für Asylwerber längst Eingang in den politischen Mainstream gefunden, was einem kräftigen Rütteln an den Eckpfeilern der Konvention gleichkommt.

Ein zentraler Punkt, der dem am 28. Juli 1951 auf einer UN-Sonderkonferenz in Genf verabschiedeten "Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge" (siehe Wissen unten) immer wieder vorgeworfen wird: Es sei nicht für Massenfluchtbewegungen geeignet, wie sie sich vor allem seit dem vergangenen Jahr in Richtung Europa ereignet haben – man könne also nicht alle Flüchtlinge ins Land lassen und ihre Asylanträge prüfen.

"Ein Pfeiler eines ganzen Systems"

Das war aber auch nie so gedacht, sagt Peter Hilpold. Für den Völkerrechtsprofessor an der Universität Innsbruck ist die Konvention lediglich "ein Pfeiler eines ganzen Systems, wobei der restliche Teil des Systems keine vertragliche Natur hat". Es existiert also kein Schriftwerk der Vereinten Nationen für Massenfluchtbewegungen. In früheren Fällen wie nach dem Ende des Vietnamkriegs 1975 oder durch die Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren kam es laut Hilpold zu "Ad-hoc-Lösungen", an denen es aktuell eben mangelt, weil die Solidarität fehlt.

Das bedeutet aber nicht, dass vor 65 Jahren auf solche Ereignisse komplett vergessen wurde. In der Präambel der Flüchtlingskonvention steht, "dass sich aus der Gewährung des Asylrechts nicht zumutbare schwere Belastungen für einzelne Länder ergeben können und dass eine befriedigende Lösung des Problems (...) ohne internationale Zusammenarbeit unter diesen Umständen nicht erreicht werden kann".

Verpflichtung ohne Inhalt

Nur ist davon im verpflichtenden Teil des Abkommens nichts mehr zu lesen. "Es gab große Widerstände der Vertragsparteien, weitere Verpflichtungen einzugehen", erklärt Hilpold, der von einem "dilatorischen Formelkompromiss" spricht: Man verpflichtet sich zu etwas, hält den Gehalt der Verpflichtung mangels Einigung aber noch offen und hofft auf einen späteren Beschluss. Zu dem ist es dann aber nie gekommen.

Womit wir wieder in der Gegenwart wären, in der Solidarität bei der Flüchtlingsverteilung ebenfalls kaum vorhanden ist und man die Länder auch nicht dazu verpflichten kann. Wie kommt man also aus dieser Sackgasse wieder heraus?

Der Völkerrechtsexperte James Hathaway erklärte dem STANDARD vor wenigen Wochen sein radikales Modell eines "internationalen Versicherungssystems": Alle Staaten stellen Geld und Aufnahmequoten zur Verfügung, und Flüchtlinge werden nicht daran gehindert, einen sicheren Ort zu erreichen. Aber "man wüsste als Flüchtling nicht, in welchem Land man letztendlich landet", so Hathaway, "das würde das Geschäft der Schlepper zum Verschwinden bringen. Denn wer würde schon viel Geld dafür bezahlen, wenn man dann Schutz in Marokko erhält."

"Es gibt viele Trittbrettfahrer"

Hathaway selbst hält eine Umsetzung in der aktuellen Situation aber nicht für umsetzbar, ebenso wie Hilpold: "Es gibt einfach viele Trittbrettfahrer, die mit der jetzigen Regelung sehr gut fahren, weil sie nicht zu Solidarmaßnahmen verpflichtet werden können."

Überhaupt birgt das Vorhaben, die Genfer Flüchtlingskonvention aufzuschnüren und zu ergänzen, noch eine andere Gefahr: "Wenn wir das machen, werden wir nicht mehr das Schutzniveau von 1951 erreichen", sagt der österreichische Politologe Florian Trauner von der Freien Universität Brüssel, der eine Nivellierung nach unten befürchtet. Auch der "Hüter" des Abkommens, das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), hält eine Änderung naturgemäß für nicht zielführend. Christoph Pinter, Leiter des Österreich-Büros, verweist stattdessen auf den UN-Flüchtlingsgipfel am 19. September in New York, "um die Verantwortung auf möglichst viele Schultern zu verteilen". Wie das gelingen soll, ist derzeit aber noch nicht klar.

EU-Richtlinie nicht aktiviert

Ein universeller Solidaritätsmechanismus wäre aber notwendig, um Ähnliches in der EU zu ermöglichen. Denn sonst, sagt Hilpold, "würden sich alle Fluchtbewegungen in Richtung Europa orientieren". Dies, so der Völkerrechtler, sei auch der Grund, wes- halb ein EU-Instrument just für Massenfluchtbewegungen bislang noch nie aktiviert wurde. Die 2001 verabschiedete Massenzustromrichtlinie definiert einen Mechanismus, um EU-weit eine große Zahl von Flüchtlingen fernab des Dublin-Systems und fernab von Asylverfahren aufzunehmen. Davon sieht man aber ab, sagt Hilpold, weil viele befürchten, dass dann noch mehr Flüchtlinge nach Europa kommen. (Kim Son Hoang, 28.7.2016)