Österreich als "Hauptstadt des radikalen Rassismus": Der türkische Außenminister Mevlut Çavuşoğlu.

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Ankara/Wien – Der Streit zwischen Österreich und der Türkei spitzt sich zu. Der türkische Außenminister Mevlut Çavuşoğlu hat am Freitag die jüngsten Forderungen von Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) über einen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche als "hässlich" bezeichnet. Er wies sämtliche Aussagen Kerns zurück und bezeichnete Österreich in einem Interview mit dem TV-Sender TGRT Haber als "Zentrum des radikalen Rassismus". Schon tags zuvor hatte er die Äußerungen Kerns "besorgniserregend" genannt. Europaminister Ömer Çelik warf dem SPÖ-Politiker sogar vor, sich die Diktion von "Rechtsextremen" zu eigen zu machen.

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) wies die Kritik über einen Sprecher und über Twitter umgehend "scharf zurück". Er mahne Çavuşoğlu zur Zurückhaltung. Die Türkei müsse ihre Wortwahl ebenso mäßigen wie ihr Vorgehen im eigenen Land.

Kern hatte mit seiner Erklärung eine europaweite Debatte über die EU-Mitgliedschaft der Türkei losgetreten und auch in Brüssel eine Abfuhr bekommen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker meinte am Donnerstagabend, es wäre ein "schwerer Fehler", Ankara die Tür zuzuschlagen.

Kerns kritischer Vorstoß

Kern hatte am Mittwochabend in der "ZiB 2" im ORF gesagt, er werde die Frage eines Abbruchs der Verhandlungen beim EU-Gipfel am 16. September in Bratislava aufs Tapet bringen. Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seien nämlich "nur noch diplomatische Fiktion", betonte Kern wie zuvor schon in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Presse". Es sei an der Zeit, den "Reset-Knopf" zu drücken. "Es braucht ein alternatives Konzept."

"Wir wissen, dass die demokratischen Standards der Türkei bei weitem nicht ausreichen, um einen Beitritt zu rechtfertigen", begründete Kern seinen Vorstoß. "Mindestens ebenso gravierend" sei aber, dass die Volkswirtschaft der Türkei "so weit weg vom europäischen Durchschnitt" sei, "dass wir einen Beitritt aus ökonomischen Gründen nicht rechtfertigen könnten".

Juncker ablehnend

EU-Kommissionspräsident Juncker lehnte einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit Ankara ab. "Ich sehe nicht, dass es jetzt von Hilfe wäre, wenn wir einseitig der Türkei bedeuten würden, dass die Verhandlungen zu Ende sind", sagte er am Donnerstag der ARD. Einen solchen Schritt halte er für "einen schwerwiegenden außenpolitischen Fehler". Außerdem müssten dies alle Mitgliedstaaten – und zwar einstimmig – beschließen. "Und diese Bereitschaft aller Mitgliedstaaten sehe ich im gegebenen Moment nicht." Gleichzeitig betonte Juncker, dass ein EU-Beitritt der Türkei aktuell nicht infrage komme. "Die Türkei kann in dem Zustand, in dem sie jetzt ist, nicht Mitglied der Europäischen Union werden."

Applaus aus der EVP, Kritik von Brok

Applaus für seine Forderung erhielt Kern vom Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament, Manfred Weber. "Es wäre richtig, wenn Sigmar Gabriel und die SPD dasselbe klare Signal wie Österreichs Bundeskanzler Christian Kern geben", sagte der bayerische Christsoziale dem "Münchner Merkur". Webers Parteikollege, der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, sagte, auch Bayern sei dafür, "dass die Europäische Union einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei in Betracht ziehen sollte".

Dagegen stellte sich der einflussreiche Chef des außenpolitischen Ausschusses im Europaparlament, Elmar Brok, gegen Kerns Forderung. "Die Mitgliedschaft der Türkei steht nicht unmittelbar bevor, und wir sollten jetzt nicht eine Provokation auf die andere setzen", sagte Brok im Ö1-"Mittagsjournal". Er wies darauf hin, dass die Beitrittsgespräche derzeit ohnehin stillstünden. "Man muss sie nicht einstellen." Der Vertraute der deutschen Kanzlerin Angela Merkel warnte zudem vor negativen Auswirkungen auf die Flüchtlingspolitik. Er wundere sich, "dass diejenigen, die keine Flüchtlinge mehr haben wollen, die ehesten sind, die die Zusammenarbeit mit der Türkei beenden wollen", sagte Brok mit Blick auf Österreich.

ÖVP stellt sich hinter Kern

Vizekanzler Reinhold Mitterlehner und Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) stellten sich hinter den Kanzler. Der Vorstoß sei abgesprochen gewesen, sagte Mitterlehner. "Ich teile die Auffassung, dass ein möglicher EU-Beitritt der Türkei aufgrund der aktuellen besorgniserregenden Entwicklungen zum jetzigen Zeitpunkt eine Fiktion wäre", so der ÖVP-Chef. Kurz wies die Kritik des türkischen Europaministers Çelik an Kern scharf zurück und betonte über Twitter, dass die Türkei ihre "Hausaufgaben machen" und sich in Wortwahl und im Vorgehen "mäßigen" müsse.

Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) hatte seinerseits in einem APA-Interview den Stopp der Beitrittsgespräche mit der Türkei gefordert. In den vergangenen Tagen hatten sich auch Vertreter der Oppositionsparteien mit entsprechenden Forderungen positioniert. Grüne und FPÖ forderten sogar, Ankara die Vorbeitrittshilfen im Umfang von mehreren hundert Millionen Euro jährlich zu streichen.

FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hat seine Forderung nach Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bekräftigt. Bei einer Pressekonferenz am Freitag zeigte sich der FP-Chef erfreut, dass Kern "offenbar beginnt, mich zu kopieren". Kritik aus der Türkei an Kern wies Strache zurück. Sein Wiener Parteikolloge Johann Gudenus fordert gar ein Einreiseverbot für Erdogan, Çavuşoğlu und Çelik. Gudenus forderte Außenminister Kurz auch auf, den türkischen Botschafter sofort einzubestellen.

Langjähriger Beitrittskandidat

Die Türkei ist seit dem Jahr 1999 EU-Beitrittskandidat. Nach jahrelangem Hin und Her verständigten sich die EU-Staaten im Dezember 2004 darauf, die Beitrittsgespräche mit dem Land zu eröffnen. Der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) verknüpfte seine Zustimmung mit der Ankündigung, dass über die EU-Mitgliedschaft der Türkei in Österreich jedenfalls eine Volksabstimmung stattfinden werde. Die SPÖ unterstützte diese Forderung, die nach der Neuauflage der großen Koalition im Jahr 2006 auch Eingang in die Regierungsübereinkünfte fand. Die Beitrittsverhandlungen starteten im Jahr 2005, verliefen aber unter anderem wegen des Zypern-Konflikts schleppend. Im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals im März wurde eine Beschleunigung der Gespräche vereinbart.

Berlin: Festhalten an Flüchtlingsdeal

Berlin hat unterdessen die Absicht bekundet, weiter am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei festzuhalten. "Es gibt keinen Grund für einen Plan B", sagte Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) der "Berliner Zeitung" am Freitag. Das Abkommen, mit dem Flüchtlinge an der Weiterreise in die EU gehindert werden, werde von den Nachwirkungen des gescheiterten Militärputsches in der Türkei derzeit nicht tangiert. "Wir haben keinen Anhaltspunkt, dass die Menschen, die von der Türkei aufgenommen worden sind oder dorthin zurückgeschickt werden, schlecht behandelt werden", sagte Altmaier. "Derzeit vollzieht sich alles so, wie es nach dem Abkommen sein soll." Im Unterschied dazu hatte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD), erklärt, das Abkommen müsse überprüft werden. Rechtsstaatliche Prinzipien würden in der Türkei nicht mehr eingehalten.

Çavuşoğlus Vorwürfe gegenüber Kern hat der FDP-Europaparlamentarier Alexander Graf Lambsdorff als "Rassismuskeule" verurteilt. Der Vizepräsident des EU-Parlaments sagte, die Tükei habe nach dem Putschversuch "jedes Maß verloren".

Als erster westlicher Spitzenpolitiker seit dem Putschversuch in der Türkei plant US-Außenminister John Kerry einen Besuch des Landes. Kerry werde am 24. August zu Gesprächen in die Türkei reisen, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Freitag dem regierungsnahen Sender TGRT. (APA, 5.8.2016)