STANDARD: Sie leben mittlerweile in Hamburg. Wenn Sie wie jetzt in Frankfurt sind, fahren Sie dann immer noch nach Hause nach Friedberg in die Wetterau? An jenen Ort, an dem Sie aufgewachsen sind und von dem – auf den ersten Blick – Ihr Bücherzyklus handelt, an dem Sie schon Jahre arbeiten.
Andreas Maier: Selten. Aber wenn ich nach Hause komme, dann habe ich nach wie vor kein Fremdheitsgefühl. Es gab in meinem Leben niemals eine längere Zeit, in der ich ganz von zu Hause weg gewesen wäre.

STANDARD: Es ist viel darüber geschrieben worden, dass Sie mit Ihren Büchern Erinnerungsarbeit leisten würden. Ist das alles noch vorhanden, was es in Ihrer Kindheit und Jugend gab? – "Das Zimmer", "Das Haus", "Die Straße", "Der Ort" – wie die Ihrem aktuellen Band "Der Kreis" vorangegangenen Bücher heißen.
Maier: Ja und nein. Der Steinwerksbetrieb meines Groß- und Urgroßvaters existiert nicht mehr, da stehen jetzt Reihenhäuser, und die Umgebung Friedbergs gibt es in der Form auch nicht mehr. Das ist jetzt alles Straße geworden. Mein Elternhaus und das Haus der Großmutter gibt es noch. Auch das der Urgroßmutter, aber daran führt jetzt auch eine vierspurige Straße vorbei.
STANDARD: Wie entstand die Idee für diesen großen Zyklus, den Sie "Ortsumgehung" nennen?
Maier: Meine ersten, früheren Romane waren immer rein fiktional, auch wenn sie natürlich Versatzstücke aus meiner Herkunft in sich trugen. Damals ging es aber nie um ein "Ich", der Erzähler war auktorial. Die Romane erzählten sogar immer ziemlich von der Hauptfigur weg. Da war eine Leerstelle. Diese Leerstelle wollte ich irgendwann aber füllen. Durch kleinere Texte, etwa meine Kolumnen für die Wiener Zeitschrift Volltext, hat sich dann der ganze Wetterau-Komplex entwickelt. Der geburtsbehinderte Onkel J. war übrigens zuerst da. Und es entstand eine Ich-Figur, die jetzt natürlich viele mit mir verwechseln. In den Kolumnen konnte dieses "Ich" über Familienmitglieder erzählen, über Zusammenhänge, aus denen dieses "Ich" kommt, über Veränderungen des Orts, an dem dieses "Ich" aufgewachsen ist. Es war damit plötzlich vieles möglich. Plötzlich war ich mitten in einem großen Spiel, das damals erst am Anfang stand. Aber ich wusste, dass sich da ein ganzer Kosmos auftut.
Daraus wurde dann die Ortsumgehung. Nach einigen Jahren war ich literarisch so in dem Wetterau-Kosmos drin, dass ich wusste: Das wird dein Lebenswerk. Übrigens wollte ich auch einfach keine Handlung mehr erzählen, Handlung langweilt mich. Andererseits ist mir aber auch klar, dass ich so etwas wie zum Beispiel Karl Ove Knausgård nicht mache, dieses breite Öffnen aller Bereiche. Mein "Ich" ist ein zusammenkonstruiertes "Ich". Es wird erst langsam durch die Bücher aufgebaut und sichtbar.
STANDARD: Es fing mit "Das Zimmer" an und geht bis heute weiter, bis zu "Der Kreis". Stand da ein fixes Konzept schon zu Beginn fest?
Maier: Die insgesamt elf Titel stehen alle fest. Ob ich die alle zusammenbekomme? Nach Der Kreis folgen noch Die Universität, Die Städte, Die Familie, Die Heimat, Der Teufel und Der liebe Gott. Ich habe die Liste in Hamburg hängen, aber ich schaue da selten drauf.
Die Titel stehen also fest, sonst weiß ich nichts. Aber ich habe mir damit eine Art Setzkasten hingestellt und werde, wenn ich einigermaßen gesund bleibe, die "Ortsumgehung" wohl zu Ende gebracht haben, bis ich 60 Jahre alt bin. Nichts Großes am Stück, sondern kleinteilig und immer wieder mit neuem Ansatz zu schreiben, das war sicher auch eine Methode, mir Angst und Druck zu nehmen. Gleichzeitig habe ich auch etwas formal Ungewöhnliches gemacht. Normalerweise würde man wie bei Marcel Proust – einem Genie, mit dem ich mich nicht vergleichen möchte – etwas Durcherzähltes erwarten: Im Schatten junger Mädchenblüte, Die Welt der Guermantes sind zwar in sich geschlossene Romane, haben aber einen zeitlich linearen Verlauf und funktionieren mehr oder minder chronologisch. In der Ortsumgehung ist das anders. Eigentlich sind alle Teile wie in sich abgeschlossene erzählerische Essays.
STANDARD: Obwohl auf jedem Ihrer Bücher "Roman" draufsteht ...
Maier: Ja, aber dennoch: Ich erzähle keine Geschichte. Ich erzähle eher so etwas wie eine persönliche Ideengeschichte, die Ideengeschichte eines Menschenlebens. Was ist ein "Ich"? Was ist eine Gruppe, in die du dich stellst? Was ist Sexualität? In meinem neuen Buch lautet die Frage: Was ist Kunst, wie kommt man zu ihr hin, warum macht man so etwas? Der Kreis ist unter den elf Büchern also sozusagen der "Künstlerroman".

STANDARD: Schreiben Sie für Ihre eigene Generation?
Maier: Diese Frage muss ich mir nicht stellen. Ich weiß, dass der Literaturbetrieb heute vielfach über Zeitgenossenschaft funktioniert, Generation soundso. Ich bin wirklich glücklich darüber, dass ich solche Gedanken überhaupt nicht habe. Ich kenne mich da auch nicht gut aus. Ich schaue ja nicht mal Nachrichten.
STANDARD: Mit Raimund Fellinger haben Sie einen der bekanntesten Lektoren in Deutschland. Mit ihm sind Sie auch schon öfter hier in dieser Frankfurter Apfelweinhandlung gesessen. Kamen Sie durch ihre Diplomarbeit über Thomas Bernhard mit Fellinger und dem Suhrkamp-Verlag in Kontakt?
Maier: Nein. Suhrkamp kam durch den damaligen Taschenbuch-Leiter Günter Berg. Der hat mich am Telefon quasi gezwungen, mein Manuskript bei ihm abzugeben. Suhrkamp war für mich dann natürlich gleich wie mein Heimatverein Eintracht Frankfurt. Und Fellinger traf ich schon am ersten Tag, als ich durchs Suhrkamp-Treppenhaus lief. Ich erinnere mich, dass ich zu ihm sagte: "Raimund Fellinger, den Namen habe ich schon gehört. Haben Sie nicht den Materialienband zu Bernhard gemacht?" Und er sagte: "Nein, zu Handke", und ist indigniert weitergegangen. Das war unsere erste Begegnung.
STANDARD: Wann wurde er Ihr Lektor?
Maier: Noch lange nicht. Sie können sich nicht vorstellen, was nach dem Martin-Walser-Ausstieg bei Suhrkamp los war. Es gab enorme Grabenkämpfe im Verlag. Wer aber neben allen Parteien immer eine Sonderrolle spielte, war Raimund Fellinger. Er kennt den Verlag von Grund auf so gut, dass er als verlagshistorisches Gewissen, ja als Archiv des Verlags bezeichnet werden kann. Als der Verlag dann nach Berlin umgezogen ist, habe ich noch weiter in und Fellinger in der Nähe von Frankfurt gelebt. Das hat uns dann noch näher zusammengebracht. Seit dem Udo-Jürgens-Buch redigiert er mich auch.
STANDARD: Was muss ein guter Lektor können?
Maier: Das kann ich gar nicht so genau sagen. Mein erster Lektor hat sich für sprachliches Lektorat erstaunlich wenig interessiert, aber er hat mir zumindest, als Anfänger, einiges an formalem Arbeiten beigebracht. Zum Beispiel habe ich damals schnell gelernt, Dinge nicht auszuerzählen. Wenn man eh schon weiß, was da gerade auf dem Papier steht, braucht es da auch nicht zu stehen. Richtiges sprachliches Lektorat habe ich später durch Hans-Ulrich Müller-Schwefe und Raimund Fellinger kennengelernt. Beides exzellente Leute, die besten, die ich kenne. Von ihnen kann man lernen, was es heißt, dass der Lektor dem Autor so helfen muss, als sei er der Autor selbst. Der Lektor sollte es schaffen, dass der Text besser wird, aber ausschließlich stets der Text des Autors bleibt mit all dessen Fähigkeiten und Unfähigkeiten.
STANDARD: "Der Kreis" beginnt mit dem Satz "Der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende ..." Beginnen Sie beim Schreiben mit dem ersten Satz?
Maier: Der erste Satz in Das Zimmer lautet "Das Zimmer meines Onkels lag im ersten Stock ...". Der erste Satz in Das Haus lautet "Das Haus meiner Kindheit war groß und leer". Ich muss, das ist das Konzept, also immer einen ersten Satz finden, der mit dem (ja bereits feststehenden) Titel des Teils beginnt. Dem aktuellen Buch steht ein Pink-Floyd-Zitat voran, die Platten von Pink Floyd aus den 70er-Jahren schlossen sich ja immer zu einem Kreis, einer Schleife: Sie endeten, wie sie begannen. Ich wollte so einen Kreisschluss in dem Buch ziehen, der mit der seltsamen Betätigung der Mutter in der Bibliothek anfängt und damit endet, dass aus etwas Uneigentlichem etwas Eigentliches wird: Der Sohn dieser Mutter wird selbst zum Autor von Büchern. Jetzt endet das Buch mit der spiegelverkehrten Version des ersten Satzes, es hat, so gesehen, kein Vorn und kein Hinten mehr.

STANDARD: Noch einmal kurz zurück zur Mutter in der Bibliothek, die sehr zentral in Ihrem Buch steht, aber als Figur nicht so gut wegkommt. Wie schwierig war es, über die eigene Mutter zu schreiben?
Maier: Das war nicht schwierige, als über andere Figuren zu schreiben. Das wahre Verhältnis zu Personen muss man ja nicht ausposaunen. Es ist viel schöner und eleganter, danach zu forschen, was das Ich im Text eigentlich von ihr hatte. Diejenigen, die meine Mutter kennen und meine Konstruktionen notorisch für autobiografisch halten, sagen übrigens, es sei erstaunlich, wie gut sie im Buch wegkomme. Was ich zum Beispiel über die Bach-Akkorde geschrieben habe: Sie konnte nur wenig Klavier spielen, aber es hatte für mich dieselbe große Bedeutsamkeit wie für das Kind im Buch. Die Mutter im Buch hat für alles, was Bildung betrifft, ein im Schiller'schen Sinn sehr sentimentalisches Verständnis. Sie hat von Philosophie keine Ahnung, hat aber Philosophie gelesen und Theologie auch. Aber sie hat alles immer nur von außen gelesen, es hat ihre Person offenbar nie berührt. Das ist wie Panini-Bildchen-Sammeln anstelle von Fußballspielen. Wenn du dieses Kulturspiel wirklich zu spielen beginnst und nicht immer nur davon träumst, es zu spielen, dann bist du aus dem Sentimentalischen raus und kommst in die Richtung, die Schiller als naiv bezeichnet – also näher dran an den Dingen, direkter. Sich zu sehnen nach etwas und es nicht zu tun ist etwas, das mich ankotzt.
STANDARD: Haben Sie heute ein Bücherzimmer, so wie Ihre Mutter eines hatte?
Maier: Ja, das hat aber pragmatische Gründe. Ich möchte in den Zimmern, in denen ich lebe, nicht von Büchern belastet sein. Ich will, dass die Bücher in einem Raum zusammenstehen. Ich bin Jungfrau, ich brauche aufgeräumte Zimmer.
STANDARD: Sie haben vor Jahren die Frankfurter Poetikvorlesungen gehalten – mit folgendem ersten Satz: "Für mich begann mein bewusstes Leben mit einer Katastrophe ... und dennoch habe ich mich von dieser Katastrophe bis heute nicht erholt."
Maier: Fragen Sie mich jetzt, was das war?
STANDARD: Ja.
Maier: Das wird beschrieben in einer Passage in Das Haus und erzählt von dem Umstand, dass ich einen einzigen Vormittag lang in den Kindergarten musste und wieder abgeholt wurde ...
STANDARD: ... und von da nicht mehr in den Kindergarten musste und zu Hause blieb.
Maier: Richtig. Das war die Katastrophe. Ich meine mit Katastrophe nicht, dass ich danach nicht mehr in den Kindergarten ging, das war vielleicht eine Katastrophe für meine Eltern. Sondern die Katastrophe waren für mich diese paar Stunden im Kindergarten, der Schock durch die Gruppe. Das war meine erste bewusste Erinnerung. Vorher kann ich mich an nichts erinnern.
STANDARD: In Ihren Büchern ist an einer Stelle vom "Problem-Andreas" die Rede. Gibt es den heute noch? Sie wirken eigentlich ganz kompatibel.
Maier: Das sagen Sie jetzt! Als ich Ihnen vor dem eigentlichen Interview erzählt habe, dass ich früher mal als Kellner gearbeitet hatte, haben Sie leicht verwundert gesagt, als Bedienung müsse man schon ein bisschen empathisch sein. Sie hielten mich auf den ersten Blick also nicht gerade für empathisch. Jetzt, nach ein paar Stunden, geht's besser, nicht? Ich könnte es auch so ausdrücken: Ich bin ja in meinem Leben immer auf dem Weg zum lieben Gott. Und da muss man in gewisser Weise durch die Menschen durch. Ich fühle mich heute immer noch schnell unter Gruppendruck. "Wer normal ist, macht in der Gruppe mit", mit solchen Gedanken bin ich als Kind wie mit einem Dämon groß geworden. Heutzutage geht es mir viel besser als früher. Ich will nicht behaupten, dass ich mich auf psychologische Weise da rausgearbeitet habe. Aber das alles gehört heute zum Zentrum meines Schreibens. Kurioserweise spendet dir das Schreiben auch dahingehend eine Wahrheit, dass dich das Schreiben in deiner Notla- ge, die dich zum Schreiben gebracht hat, versteht. Das Schreiben setzt dich plötzlich an eine andere Stelle.
STANDARD: Das, was Sie da mit Ihren Büchern schöpfen, setzt ja einen Erinnerungsprozess voraus. Wie funktioniert der praktisch? Arbeiten Sie mit Notizen?
Maier: Notieren ist der Tod. Ich notiere nie irgendetwas. Alles, was notiert ist, ist gestorben, weil es schon seine Form hat. Das größte Notizbuch ist unser Gehirn, sagt Proust, und da, im noch Ungeformten, soll es auch bleiben. In dem Moment, in dem man etwas niedergeschrieben hat, hat man es isoliert. Ich vergleiche Schreiben immer auch mit einem gelungenen Gespräch. Je freier das Gespräch, desto besser, desto mehr ist möglich, und desto reicher wird es. Aber gehen Sie mal mit konkreten Vorsätzen in ein Gespräch! Das wird meistens gar nichts. Ich mag offene Gesprächssituationen. Ich will auch beim Schreiben immer die Dinge finden, die frei passieren können, ungewollt.
STANDARD: Das heißt, Sie setzen sich an den Schreibtisch und schreiben los.
Maier: Nein, natürlich nicht. Ich muss nach allem ganz lange suchen. Es ist wie bei einem Maulwurf: Ich muss hier graben, ich muss da graben. Ich muss lange warten, bis ich auf Boden komme, wo es geht. Aber wenn sich dieser Zustand einstellt, dann produziere ich in sehr kurzer Zeit ziemlich viele Seiten. Die ersten 50 Seiten von Der Kreis liefen in zwei, drei Tagen ab. Später muss man das Buch dann natürlich so hinzaubern, als wäre alles in einem Guss entstanden, und die Technik, die man angewendet hat, wieder unsichtbar machen. Aber da sind wir dann schon bei den Überarbeitungsstufen.
STANDARD: Und manchmal kommt auch nichts. Dann geht man spazieren?
Maier: Manchmal Wochen und Monate.
STANDARD: "Der Kreis" schließt sich in Ihrem Buch mit dem "Es tun", damit dass darin das Eigentliche liegt, "dass man selbst rüberkommen kann auf die andere Seite", nämlich Kunst zu schaffen. Wann hat sich das für Sie eingestellt?
Maier: Der Augenblick, in dem ich geglaubt habe, es selbst zu schaffen, oder der Augenblick, als ich überhaupt gesehen habe, dass es diese andere Seite gibt? Diese andere Seite habe ich für mich entdeckt, als ich als Schüler ein Gedicht von einem meiner Lehrer in einem Buch bei S. Fischer abgedruckt gesehen habe, zwischen Fried und Krolow und solchen Leuten. Er war in den 60er-Jahren ein bisschen in der Lyrikszene in Deutschland dringewesen. Wildwechsel hieß das Gedicht. Eine Mitschülerin hatte es entdeckt. Das war der Augenblick, in dem ich begriff: Das kann man selbst machen. Aber aus ihm ist keine Schriftstellerexistenz geworden. Keine Ahnung, warum. Ich habe ja dann auch erst mal ein paar Jahre gebraucht.
STANDARD: Ihre Mutter ist nie auf die andere Seite gekommen?
Maier: Keine Ahnung. Die Bücher, das war immer die andere, angehimmelte Welt. Die großen Geistesmänner. Da hat sie dann auch gern Briefkontakt gesucht. Ich bekomme heute ja auch jede Menge Briefe, übrigens meist von Frauen. Aber Schreiben hat mit Sicherheit nicht nur etwas mit Sich-Informieren, Studieren und Etwas-Intellektuelles-Wollen" zu tun. Schreiben hat etwas mit Funktionieren zu tun. Du musst lange suchen, bis du das findest, was für dich funktioniert. Wenn du es gefunden hast, entsteht erst langsam deine Schriftstellerperson. Schreiben heißt in erster Linie, mit sich selbst vertraut zu werden – mit den eigenen Fähigkeiten und noch viel mehr mit den eigenen Unfähigkeiten. (Mia Eidlhuber, Album, 6.8.2016)