
"Das Fernsehen ist am Ende, und es geht weiter": Schriftsteller und Serienexperte Franz Schuh.
STANDARD: Ihr jüngstes Buch heißt "Sämtliche Leidenschaften". Welche Leidenschaften haben Sie für den ORF?
Schuh: Unfaire Frage, denn sie zwingt mich zu dem Geständnis, dass ich für den ORF eine eigensüchtige Leidenschaft hege: Gerne wäre ich Journalist geworden, aber – genau wie heute – Ende der 1970er-Jahre konnte ein Mensch, der von Musil und Hegel, von Kant und Brecht bewegt war, keine Arbeit in der Branche finden. Ich hätte meinen Beruf nie lernen können, hätte ich nicht im Studio Wien Arbeit bekommen. Ich kann also tun und lassen, verachten und hassen, wen immer ich im ORF hassen will, ich empfinde Dankbarkeit.
STANDARD: Wären Sie gern Fernsehjournalist geworden?
Schuh: Nein, ich kann Fernsehen nicht leiden. Fernsehen ist eine Verkürzung der sprachlichen Möglichkeiten. Fernsehen heißt, Sie müssen jeden Satz, den Sie sagen, mit dem Bild kombinieren. Die Bilder sind aber meistens noch blöder, als es die Sätze allein schon wären. Dieses Zusammenspiel von Bild und Sprache ist daher eine Qual, auch wenn man sieht, wie das gemacht wird: Am Bildschirm laufen die Bilder vorbei, und in einer Art eisernen Kammer sitzt ein Sprecher und koordiniert, was er sieht, mit dem, was er sagt. Wenn eh nichts passiert, und der Sprecher trotzdem was sagt, dann ist es besonders schlimm.
STANDARD: Beim Frühstücksfernsehen soll das manchmal der Fall sein. Schauen Sie "Guten Morgen Österreich"?
Schuh: Das Frühstücksfernsehen wurde von einem buddhistischen Intriganten erfunden, um die absolute Leere mit dem größten medialen Aufwand herzustellen. Es ist der reine austriazistische Wahn, die Summe der sich in Medien niederschlagenden Eigenheiten eines Landes, in dem man versucht, unter allen Umständen nichts gesagt zu haben, nichts getan zu haben, es nicht gewesen zu sein – und das in aller Ausführlichkeit. Allein das totale Nichts stimmt uns heiter.
STANDARD: Im Fall seiner Wiederwahl kündigte Alexander Wrabetz eine Reform von Ö1 an. Erhält er Ihre Zustimmung?
Schuh: Das Gespenstische ist derzeit, dass die Politik in Bezug auf den ORF (und überhaupt) so tut, als wäre alles wie immer, als würde der alte Großparteienfeudalismus gelten nach dem Motto "Folgt uns, und wenn nicht, auch egal, wir machen sowieso unser eigenes Ding". Die Zeiten ändern sich, und wenn man bleiben will, was man war, muss man sich reformieren. Die Frage ist, wie viel von der ursprünglichen Substanz durch die Reform zerstört wird.
STANDARD: Ö1-Hörer sind da sehr sensibel und lehnen Reformen ab.
Schuh: Verständlich, denn in Österreich signalisiert "Reform" entweder, dass eine solche eh nie stattfindet, oder dass sie ruiniert, was es zu erhalten gälte. Für mich ist Ö1 besonders wichtig, weil der Sender Kontakt herstellt zwischen dem akademischen Leben und den damit nicht vertrauten Menschen. In diesen Fünf-Minuten-Sendungen zum Beispiel ("Betrifft Geschichte"), in denen ein Gelehrter über römische Münzen spricht, hast du die Chance, Hörer aus einem ganz anderen Milieu anzuregen und sie auch für römische Münzen zu interessieren. Der Sinn für die Orchideenfächer wird genauso wachgehalten wie der für die große Geschichte.
STANDARD: In welcher Liga spielt ORF 3?
Schuh: Die Professoren haben früher, als man begann, auf der Uni Marx zu lesen, einen aus ihren Reihen ernannt, der exklusiv Marx unterrichtete. Der zog dann alle Marx-Leser an. Sonst gab es nirgendwo Marx. ORF 3 ist ein wunderbarer Sender, kultur- und informationsgedrillt, genau wie wir Zuseher. Aber er hat diese Entlastungsfunktion: Auf ORF 1 hat man "The Big Bang Theory", bis zum Gehtnichtmehr. Wieso sollte man, da es doch ORF III gibt, auch auf ORF 1 gescheit sein?
STANDARD: Wie fällt Ihre Bilanz der Ära Wrabetz aus?
Schuh: Lange Zeit wurde der ORF durch eine Person verkörpert, deren Autoritarismus unerträglich war, aber heute im Rückblick nützlich: Gerd Bacher machte die Trennung zwischen ORF und "Kronen Zeitung" deutlich. Heute schwimmt alles in einer Suppe, es gibt keine herausragende Persönlichkeit, sondern viele nette Leute, die sich von der Kamera abfilmen lassen, hin und wieder ein privates Buch veröffentlichen, in dem sie schreiben, dass sie Depressionen haben oder dass die Landschaften verschandelt werden, und dann treten sie auch noch in einer Tanzsendung auf. Das ist eine Verwässerung dessen, was der ORF einmal war. Die Hauptsache heute ist das Anbieten: Dass jeder gezwungen ist, seine Ware anzubieten, sich selbst auf den Markt zu stellen und dabei für sich Reklame zu machen, erzeugt nichts als Unglaubwürdigkeit. Wenn Wrabetz erklärt, Herr Grasl habe ganz andere Ansichten als er, aber sie kämen super miteinander aus, dann interessiert mich diese Art von herzlichem Verhältnis.
STANDARD: Männer können das angeblich.
Schuh: Es lebe Kathi Zechner, die in dieses Bild hineinpasst, weil sie noch mehr arbeitet als die ihr vorgesetzten Männer. Es ist ein Austriazismus, eine in Österreich eingebürgerte Strategie, mit Unverträglichkeiten umzugehen: dass man den, den man am meisten hasst, sich besonders nahe hält und gut zu ihm ist. Schrecklich, würden die Leute, die gegeneinander kämpfen, einander lieben. Das wäre fast christlich.
STANDARD: Oder eine Leidenschaft?
Schuh: Eben nicht, sondern eine vertrackte, zwischen Eigensucht und Angst hin und her schwankende Würdigung des Nächsten.
STANDARD: Manche sehen das Fernsehen sowieso am Ende. Sie?
Schuh: Immer schon gab es Menschen, die alles am Ende sahen. Einer davon hieß Schopenhauer.
STANDARD: Hat er recht?
Schuh: Na klar, weil alles immer am Ende ist. Aber so lange, bis es wirklich aus ist, muss das Ende noch zelebriert, "ausgelebt" werden. Alles, was zu Ende ist, geht weiter, und wenn es wirklich einmal aus ist, wird es davon nicht einmal einen Katastrophenfilm geben. Das Fernsehen ist am Ende, und es geht weiter.
Standard: Wie "The Big Bang Theory".
Schuh: "The Big Bang Theory" ist eine Serie von großer Wahrhaftigkeit. Sie zeigt, wie in der Physik große Geister sozial inkompetente Menschen sind, Idioten, die ihre Erfindungen überhaupt nicht verantworten könnten.
STANDARD: Und warum können die Zuseher nicht genug davon bekommen?
Schuh: Diese Serien funktionieren sozialtherapeutisch. Der ideale Seher ist ein einsamer Mensch, ein "Masseneremit" (Günther Anders). Die Serien sind darauf angelegt, Menschen zu zeigen, die reiche Sozialkontakte in überschaubaren, anekdotisch verdichteten Dramaturgien haben. Ich sehe zu und "lebe mit."
STANDARD: Welche Serie schauen Sie derzeit?
Schuh: Die letzten Folgen der "Vorstadtweiber". Ich schätzte "Desperate Housewives" sehr, zwar mit ambivalenten Gefühlen, weil mir klar war, dass die Genialität dieser Serie, die neurotische Wachsamkeit und Überreiztheit der handelnden Figuren, von einer Kommerzdramaturgie gebremst werden musste. Es gab diese absolut künstlerische Qualität der Durchleuchtung von Menschen einer bestimmten Schicht, und gleichzeitig gab es Versuche, die Kunst auf ein eingebürgertes Format zu stutzen. Die "Vorstadtweiber" sind ein Versuch, Österreichs reale Korruption in Bilder zu übersetzen, die generell kommunizierbar sind. In der Darstellung der Korruption haben die "Vorstadtweiber" etwas eingebaut, das in der realen Korruption auch zu beobachten ist: Die Korrupten überdribbeln sich ständig selbst. Das ist Unterricht in Gegenwartsgeschichte.
STANDARD: Wie "Braunschlag"?
Schuh: Wie "Braunschlag", wo man sich wunderte, was alles geht. Ein Kandidat hat, ohne es zu wollen, "Braunschlag" den Satz nachgeliefert: "Sie werden sich wundern, was alles gehen wird." Ein Wunder rückte "Braunschlag" in den Mittelpunkt der gläubigen Welt.
STANDARD: Sie sind erklärter Gegner des ehemaligen Medienministers Josef Ostermayer.
Schuh: Ich habe ihn einmal als "Feind" bezeichnet. Darauf lud er mich zu einem Gespräch ein. Schon das Telefonat war eigen, denn es begann damit, dass er sagte, ich würde sicher glauben, er sei der Ostermayer von FM4 – was stimmte. Ich ging hin, zuerst zu Ostermayer ins Funkhaus, dann aber ins Kanzleramt. Dort erklärte ich, die Kunst der Politik bestünde darin, für den ORF zwar den Eigentümervertreter zu machen, aber das vertretene Eigentum zu einer autopoietischen, selbstbeweglichen Struktur umbilden zu lassen. Darüber lacht doch die Welt, einen Stiftungsrat zu nähren, den man gar nicht braucht, weil man Parteiausschüsse direkt gegeneinander antreten lassen könnte! In dieser Frage gab es keine Einigung. Sonst schätzte ich ihn sehr.
STANDARD: Wie stehen Sie zum neuen Minister Thomas Drozda?
Schuh: Über ihn kann ich reinen Herzens sagen, dass ich über ihn nichts sagen kann. (Doris Priesching, 6.8.2016)