Bundeskanzler Christian Kern bei seinem Antrittsbesuch bei Angela Merkel. Der Vorstoß der Wiener Bundesregierung setzt Berlin unter Druck.

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"Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet." So lautet der Artikel 2 des Vertrages von Lissabon, des grundlegenden Dokumentes der Europäischen Union. Heute ist die EU nicht mehr bloß eine Wirtschaftsgemeinschaft, als welche sie ursprünglich gegründet wurde. Sie versteht sich als Wertegemeinschaft auf der Basis von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten.

Eine gemeinsame EU-Außenpolitik, wie sie ebenfalls im Lissabon-Vertrag skizziert wird, hat sich als zahnlos erwiesen, ohne Linie, ohne Weitsicht und vor allem ohne Rückgrat, wie sich besonders dramatisch beim Flüchtlingsthema und zuletzt beim Großteil der Reaktionen auf die Säuberungswelle durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach dem Putsch gezeigt hat.

Die Türkei ist von den in Artikel 2 genannten Werten Lichtjahre entfernt, selbst wenn die Todesstrafe vielleicht doch nicht wieder eingeführt wird. Jene europäischen Politiker von Jean-Claude Juncker bis Frank-Walter Steinmeier, die nun mahnen, Ankara nicht die Tür zuzuwerfen, vergessen, dass Erdoğan die Tür längst selbst zugemauert hat. Mit der Türkei weiter über einen EU-Beitritt zu verhandeln, ist daher vollkommen sinnlos. Allen voran die deutsche Regierung will jedoch dies Potemkinsche Dorf weiterbauen, um den Flüchtlingsdeal mit Ankara aufrecht zu erhalten. Schließlich wurden Erdoğan dafür Visafreiheit und beschleunigte Beitrittsverhandlungen versprochen – Zugeständnisse, die niemals hätten gemacht werden dürfen, da die Türkei die dafür nötigen Kriterien nicht erfüllt. Mit diesem Deal hat sich die Europäische Union einem Despoten ausgeliefert.

"Besorgnis" reicht nicht

Die österreichische Bundesregierung hat diese Situation erfasst und setzt nun die ersten Schritte, um die Politik des Appeasements gegenüber Erdoğan zu beenden. Die bloße Äußerung der "Besorgnis", bei der es die Verantwortlichen für den Flüchtlingsdeal in Brüssel und Berlin gerne belassen würden, reicht längst nicht mehr. Die Thematisierung eines Abbruchs der Beitrittsverhandlungen durch Bundeskanzler Christian Kern ist eine konsequente Reaktion auf die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Und Außenminister Sebastian Kurz hat ohnehin seit Dezember des Vorjahres immer wieder vor der Erpressbarkeit der EU durch das Abkommen mit der Türkei gewarnt und eine eigenständige europäische Grenzsicherung gefordert. Nun warnt Kurz, das "Kartenhaus der verfehlten Flüchtlingspolitik in Europa" drohe zusammenzubrechen – ein an Berlin gerichteter Wink mit dem Grenzzaunpfahl.

Der Gedanke, dass Österreich unter Kern und Kurz eine eigenständige, aktive Außenpolitik betreibt, ist gewöhnungsbedürftig – so etwas gab es hierzulande schon länger nicht. Die Überlegung, wie wohl die meisten ihrer Vorgänger der vergangenen zwei Jahrzehnte gehandelt hätten, ist höchst unerquicklich. Wie schon im März bei der Schließung der Balkanroute könnte der österreichische Vorstoß für einen positiven Spin in einer verfahrenen Situation sorgen – dazu muss sich Wien mit weiteren europäischen Regierungen akkordieren.

Dann wird sich diese Erkenntnis durchsetzen: Das Bekenntnis der Europäischen Union zu ihren gemeinsamen Werten ist alternativlos. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist es nicht. (Michael Vosatka, 7.8.2016)