Yusra Mardini ist in Rio eine gefragte Person. Es hat schon zwei Anfragen aus Hollywood gegeben.

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Das Flüchtlingsteam wurde bei der Eröffnungsfeier in Rio mit Applaus bedacht. Auch IOC-Präsident Thomas Bach hat davon profitiert.

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Yusra Mardini hatte keine Chance. Sie schwamm im ersten Heat des zweiten Bewerbs, 100 Meter Delfin. Mardini, auf Bahn vier unterwegs, schlug in 1:09,21 Minuten sogar als Erste an, sie ließ Konkurrentinnen aus dem Jemen, aus Ruanda, aus Grenada und Katar hinter sich. Da noch fünf Läufe folgen sollten, kam schließlich Rang 41 heraus. Doch für Mardini war das Resultat von vornherein Nebensache. Als sie aus dem Wasser stieg und die weiße Badehaube mit dem Aufdruck R.O.T. abnahm, strahlte sie.

Refugees Olympic Team, dafür steht die Abkürzung. Mardini war als Erste der zehnköpfigen Mannschaft von Flüchtlingen, denen das IOC eine Olympia-Teilnahme ermöglicht hat, in Rio im Einsatz. Die 18-Jährige ist, wenn man so will, das Gesicht der Mannschaft, sie hat auch die weiße, olympische Fahne getragen, als sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen zur Eröffnung im Maracanã-Stadion einmarschierte. Mardinis Geschichte hatte schon zuvor weite Kreise gezogen, und die Kreise werden weiter.

Im Vorjahr war Yusra, die bei der Kurzbahn-WM 2012 in Istanbul für Syrien antrat, gemeinsam mit ihrer um drei Jahre älteren Schwester Sarah aus Damaskus geflohen. Mit 18 anderen Menschen wagten sie in einem Schlauchboot die Überfahrt von der Türkei nach Lesbos. Der Außenbordmotor streikte, da sprangen Yusra und Sarah – beide gute Schwimmerinnen, die in Syrien schon Titel gewonnen hatten – gemeinsam mit einem Mann ins Wasser und zogen das Boot hinter sich her. Mehr als zwei Stunden lang, dann hatten sie festen Boden unter den Füßen. "Wasser", sagt Yusra, "hab ich danach eine Zeitlang nur gehasst."

Die Schwestern reisten über die Balkanroute weiter, bis nach Berlin. Dort leben mittlerweile auch ihre Eltern, die nachgekommen sind, doch Yusra wohnt weiterhin im Vereinshaus der Wasserfreunde Spandau auf dem Olympiagelände von 1936, wo sie auch eine Sportschule besucht. Die Wasserfreunde sind jener Verein, an den sie ein Sozialarbeiter vermittelt hatte. Dort hat Trainer Sven Spannekrebs die junge Syrerin unter seine Fittiche genommen. Spannekrebs war es auch, der den Kontakt zum IOC herstellte, nachdem er von der Flüchtlingsteam-Initiative gehört hatte.

Mardini war zunächst eine von 43 Kandidatinnen und Kandidaten. Nach und nach wurde der Kader reduziert. Neben Mardini starten in Rio ihr ebenfalls schwimmender und nun in Belgien lebender syrischer Landsmann Rami Anis (25), die mittlerweile in Brasilien lebenden Judoka Popole Misenga (24) und Yolande Bukasa Mabika (28) aus der Demokratischen Republik Kongo, der äthiopische und in Luxemburg beheimatete Marathonläufer Yonas Kinde (36) sowie zwei Läuferinnen und drei Läufer aus dem Südsudan, die sich für ihre Bewerbe (400, 800, 1.500 Meter) in Kenia vorbereitet haben: Rose Nathike Lokonyen (21), Anjelina Nadai Lohalith (23), Yiech Pur Biel (21), James Nyang Chiengjiek (24), Paulo Amotun (24). IOC-Auswahlkriterien waren das sportliche Leistungsvermögen, die persönliche Situation sowie der durch die Vereinten Nationen verifizierte Flüchtlingsstatus.

Lautsprecher

In der Mixed Zone des Schwimmstadions, wo üblicherweise nur um siegreiche Stars wie Michael Phelps ein echtes G'riss herrscht, dreht sich diesmal, nach einem Vorlauf, alles um Yusra Mardini. Eine wahre Sportjournalistentraube hängt an ihren Lippen, in der Hoffnung auf ein paar Wortbrocken. Nur einige stehen weiter hinten und halten ihr Handy oder ihr Ohr an einen Lautsprecher, aus dem Mardinis Stimme ja ebenfalls ertönt.

Ihr Deutsch wird immer besser, ihr Englisch ist schon ausgezeichnet, sie sagt Sätze wie: "Ich will allen zeigen, dass man es trotz Krieg und Elend schaffen kann, wenn man an sich glaubt." Oder: "Wir repräsentieren die Hoffnung. Wir repräsentieren 60 Millionen Menschen weltweit und wollen zeigen, dass wir etwas leisten und erreichen können – nicht nur im Sport." Und schließlich: "Ich möchte, dass die Menschen verstehen, dass wir normale Menschen sind. Wir mussten unsere Heimat verlassen und wollen ein besseres Leben. Aber was uns passiert ist, kann jedem passieren."

Eiertanz

Mit ihrem gewinnenden Wesen, mit ihrer positiven Ausstrahlung ist Mardini ein wahrer Glücksfall für Thomas Bach. Der ob seines Eiertanzes im russischen Dopingskandal vielgescholtene IOC-Präsident kostet diesen Glücksfall auch aus, über die Flüchtlinge redet er Länge mal Breite, über die Russen am liebsten gar nicht. Ergo wird Bach auch von seinen Kritikern vorgeworfen, dass er bloß von eigenen Unzulänglichkeiten ablenken wolle.

Das alles kümmert Yusra Mardini kaum. Natürlich ist sie dem IOC dankbar, sie ist einen weiten Weg gegangen und geschwommen, vor einigen Monaten hätte sie sich nicht erträumt, einmal auf dem Corcovado zu stehen. Nun war sie dort und posierte mit den anderen Flüchtlingssportlern vor der Christusstatue für dutzende Fotografen. "Bald werden wir einen Agenten brauchen", sagt ihr Trainer Spannekrebs und fügt hinzu, dass es schon zwei Anfragen aus Hollywood gegeben habe. Mardini sagt: "Film, wieso denn nicht? Ich mag Kino."

Bei den Spielen schwimmt sie noch die 100 Meter Kraul. Sie wird wieder keine Chance haben. Und doch ist Yusra Mardini eine der großen Gewinnerinnen von Rio – vielleicht die größte. (Fritz Neumann aus Rio, 8.8.2016)