Knochen und Kabel – unser Arbeitsplatz im Gebäude der ehemaligen Dorfschule von Oymaağaç.

Foto: Herbert Böhm

Das Becken von Vezirköprü ist klimatisch begünstigt und sehr fruchtbar. Die umliegenden Berge sind reich an Bodenschätzen.

Foto: Oymaağaç-Nerik Project Database

Suchbild mit Schildkröte: Der Siedlungshügel am Rande des Dorfes Oymaağaç Köy inmitten der Felder.

Foto: Günther Karl Kunst

Ein Blick auf die Grabung: Die lange Besiedelungsgeschichte verursachte eine meterhohe Stratigrafie von Baustrukturen und Siedlungsschichten.

Foto: Herbert Böhm

Die mächtigen Fundamentmauern des hethitischen Tempels – unterschiedliche Bauphasen verursachen komplizierte Situationen.

Foto: Oymaağaç-Nerik Project Database

Eine hethitische Badewanne?

Foto: Oymaağaç-Nerik Project Database

Der Abgang zum Quellheiligtum – gut zu erkennen ist die Bauweise des Kraggewölbes.

Foto: Oymaağaç-Nerik Project Database

Dem Allerheiligsten schon recht nahe: Julia und Anιl arbeiten sich in Richtung Kammer vor.

Foto: Herbert Böhm

"Bonescape" – Tierknochen im Raum. Wo sich welche Tierknochen ablagern, ist von vielen Faktoren abhängig.

Foto: Oymaağaç-Nerik Project Database

Die kleinen roten Traktoren brettern eine Staubwolke nach sich ziehend auf der ungepflasterten Straße vor unserem Haus vorbei, die mutigeren Kinder rufen bereits zum fünfzehnten mal ihr "Helllooo!" zu uns herüber, die Gänseschar versucht sich leise quak-schnatternd und möglichst unauffällig auf unser Grundstück zu schleichen, und die Spatzen randalieren in den Gebüschen.

Ein ländliches Idyll – nichts scheint sich seit dem vergangenen Jahr im nordanatolischen Dorf Oymaağaç Köy, etwa zwei Autostunden südwestlich der Schwarzmeermetropole Samsun gelegen, verändert zu haben. Und doch gibt es auch hier erstaunliche Entwicklungen, mit denen zumindest ich nicht mehr gerechnet hätte. Eine steht direkt vor dem Fenster meines Arbeitsplatzes: eine Mülltonne! Überall im Dorf stehen nun Mülltonnen, und diese werden von den Bewohnern auch tatsächlich als solche verwendet, zumindest manchmal.

Müll vergangener Kulturen

Abfall und das Abfallverhalten von Menschen ist für Archäologen höchst interessant, denn es ist der Müll vergangener Kulturen, mit dem sie hauptsächlich zu tun haben, sofern sie nicht gerade irgendwo auf der Welt Bestattungen ausgraben oder sich mit Sedimenten und deren Eigenschaften beschäftigen.

Ich untersuche eine spezielle Kategorie von Müll, nämlich tierische Überreste, meistens Knochen- und Zahnreste, die man auf Grabungen massenhaft findet – ich bin Archäozoologe. Zusammen mit meinem Kollegen Günther Karl Kunst vom Vienna Institute for Archaeological Science (VIAS) der Universität Wien bearbeite ich seit einigen Jahren die Tierreste der Fundstelle Oymaağaç Höyük, die mit der hethitischen Kult- und Königsstadt Nerik verbunden werden kann. Wie wir aus antiken Schriftquellen wissen, zählte Nerik zu den bedeutendsten Orten des hethitischen Reichs und verdankte seine herausragende Stellung dem lokalen Wettergott, der eine wichtige Rolle in der hethitischen Glaubensvorstellung einnahm.

Vom hethitischen Zentralort zum türkischen Dorf

Die Hethiter waren jedoch nicht die Einzigen, die diesen Ort nutzten. Einzelne Funde aus dem Chalkolithikum (5./4. Jahrtausend v. Chr.) dürften den Beginn der Besiedelung des Hügels markieren, erste Gebäudereste finden sich in der frühen Bronzezeit. Etwa ab dem 17./16. Jhdt. v. Chr., also in frühhethitischer Zeit, ist der erste Tempelbau für den besagten Wettergott nachgewiesen.

Dieser dürfte im 15./14. vorchristlichen Jhdt. jedoch nachhaltig verstimmt gewesen sein: Die Hethiter verloren die Kontrolle über das Gebiet an die archäologisch schwer fassbare ethnische Gruppe der Kaškäer. Der Tempel wurde ein Raub der Flammen, und der Kult musste an einen anderen Ort verlegt werden.

Erst im 13. Jhdt. gelang es dem Großkönig Hattušili III. – das war jener König, der den berühmten Friedensvertrag mit Pharao Ramses II. nach der Schlacht von Kadesh besiegelte –, Nerik zurückzuerobern. Tempel und Kult wurden wieder errichtet, sodass der Wettergott und seine Gemahlin ein angemessenes und zufriedenes Leben führen konnten, zumindest für die nachfolgenden Jahrzehnte.

Dann kollabierte das hethitische Großreich aus weitgehend ungeklärten Gründen, und Nerik wurde abermals von einer Feuerkatastrophe heimgesucht. In der nachfolgenden Eisenzeit wurde der Hügel weiterhin bewohnt, wie unzählige Siedlungsgruben beweisen. Erst in späthellenistisch-römischer Zeit verlor der Ort seine Bedeutung zugunsten der Stadt Neoklaudiopolis, das von der heutigen, wenige Kilometer entfernten Kreisstadt Vezirköprü überlagert wird. Aus der wichtigen Stadt wurde ein Dorf, das den Siedlungshügel noch bis in mittelbyzantinische Zeit als Bestattungsplatz nutzte.

Der Fundort – komplex und außergewöhnlich

Eine derartig lange und intensive Nutzung hinterlässt natürlich mächtige Ablagerungen und komplizierte Befundsituationen. Ein vollständiges Ausgraben des gesamten Areals ist dadurch nicht möglich. Das vorrangige Ziel der Grabung, die von Rainer M. Czichon (Universität Uşak) und Jörg Klinger (FU Berlin) geleitet wird, ist daher besagte Tempelanlage, die sich an der höchsten Stelle des Siedlungshügels befindet und eine Fläche von etwa 2.500 Quadratmetern umfasst.

Weiters gilt das Interesse der komplexen Stadtbefestigung, dessen östliches Stadttor offenbar mit dem Eingang des Tempels korrespondiert. In einem Raum eines Torturms wurde eine etwa 200 Liter fassende Tonwanne gefunden, bei der es sich womöglich um eine Badewanne handelt. Keramikgefäße, Schmuckstücke, Trachtbestandteile und Gerätschaften des alltäglichen Gebrauchs runden das Fundensemble des mutmaßlichen Badezimmers ab.

Eine unterirdische Kammer

Etwas außerhalb der Tempelanlage befindet sich ein weiterer besonderer Befund: Ein etwa 15 Meter langer Tunnel, als Kraggewölbe gemauert, führt zu einer unterirdischen, in den Fels gehauenen Kammer. Vermutlich handelt es sich dabei um die aus hethitischen Texten bekannte "Kultquelle von Nerik". Was sich nun genau in der Kammer befindet, wird die laufende Kampagne zeigen.

Abgesehen von solch konkreten Befunden gilt es Fragen zur hethitischen Kultur und deren Umweltbedingungen an deren nördlicher Peripherie sowie zum Übergang vom hethitischen Reich zur Eisenzeit zu klären. Ein Folgeprojekt der süddänischen Universität Kolding unter Tønnes Bekker-Nielsen untersuchte zudem die spätantike-byzantinische Geschichte des Beckens von Vezirköprü. Finanziert und unterstützt wird das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Gerda-Henkel-Stiftung und dem türkischen Kultusministerium.

Archäozoologen liefern wichtige Daten

Eines vorneweg: Möglichst spektakuläre, seltene oder exotische Tierarten konnten wir unter den etwa 40.000 Tierknochen, die bisher untersucht wurden, nicht finden. Etwa 95 Prozent des Fundgutes entfällt auf die wichtigsten Wirtschaftstierarten Rind, Schwein sowie Schaf und Ziege. Unter den wenigen Wildtieren sind Feldhasen und Schildkröten am häufigsten vertreten.

Das mag langweilig klingen, ist es aber nicht. Die Erkenntnisse, die aus Tierknochenfunden gewonnen werden können, reichen nämlich weit über bloße Bestimmungslisten, in denen angegeben wird, welche Tierarten durch welche Skelettteile vertreten sind, hinaus. Da Tiere, beziehungsweise tierische Ressourcen wichtige Bestandteile fast aller Lebensbereiche waren, sind auch die Aussagemöglichkeiten der Archäozoologie entsprechend vielseitig. Die räumliche Verteilung von Knochenfunden kann zum Beispiel wichtige Hinweise auf Aktivitätszonen, Abfallverhalten, Raumorganisation und Schichtbildungsprozesse geben.

Erste Analysen dazu lassen in Oymaağaç komplexe Zusammenhänge zwischen Tierartenrepräsentanz, Befundtyp (also etwa Gruben, Versturzschichten, Oberflächen et cetera) und deren chronologischer Stellung vermuten. Wo sich also welche Skelettteile von welchen Tieren in der Siedlung anhäuften, wurde von unterschiedlichen kulturellen "Filtern" beeinflusst, die zu variierenden Probenzusammensetzungen über Raum und Zeit führten.

Hinweise zum Entsorgungsverhalten

Dadurch kann etwa gezeigt werden, dass das häufigere Auftreten einer Tierart in einer bestimmten Epoche oder einem bestimmten Befundtyp nicht unbedingt nur die Nahrungspräferenz der Bevölkerung widerspiegeln muss, sondern vielmehr deren Entsorgungsverhalten. Solche kontextbezogenen Informationen helfen nicht nur dabei, Fundorte zu interpretieren, sondern relativieren auch zu einfache, naive Vorstellungen über Ernährungsweisen und ökonomische Grundlagen vergangener Kulturen.

Im modernen Oymaağaç verteilte sich der Müll bisher in stillen Winkeln des Orts, wurde verbrannt oder außerhalb des Dorfes neben der Straße deponiert. Ob die Mülltonnen zu einem merklichen Unterschied des Abfallverhaltens in Oymaağaç führen werden, wird sich nächstes Jahr weisen – inschallah. (Herbert Böhm, 11.8.2016)