STANDARD: Überall in Caracas fehlt es an Medizin, Lebensmittel sind rationiert, Wasser und Strom sind knapp. Ist das Ende des 1999 mit Hugo Chávez begonnenen Erdöl-Sozialismus in Sicht?

Sierra: Das Modell, das auf assistenzialistischer Umverteilung der Erdöleinnahmen beruht, steckt in der Krise. In den vergangenen 17 Jahren hat sich die Abhängigkeit vom Erdöl verstärkt. 1998 machte Erdöl rund 70 Prozent unserer Exporteinnahmen aus, heute sind es 96 Prozent. Geld kommt weiterhin ins Land, ebenso wie importierte Nahrungsmittel und Medikamente. Aber Spekulation und Korruption haben enorm zugenommen. Die Güter verschwinden zum Großteil in dunklen Kanälen.

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"Wir wollen Medikamente" ist auf dem Transparent dieser Kundgebungsteilnehmerin in der venezolanischen Hauptstadt Caracas zu lesen. Präsident Nicolás Maduro steht seit Monaten unter massivem Druck.
Foto: reuters / carlo garcia rawlins

STANDARD: Augenscheinlich lebt ein Großteil der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung heute vom Weiterverkauf von Gütern, weil die heimische Produktion eingebrochen ist.

Sierra: Nicht nur die normale Bevölkerung, auch das Militär ist daran beteiligt. Und die Mittelschicht, die jungen, qualifizierten Leute, verlassen das Land. Firmen schließen, weil es keine Arbeitskräfte, keine Devisen und kein Material gibt. Die Kriminalität ist in die Höhe geschossen. Der soziale Zerfall belastet unsere Zukunft, und solche Probleme kann man nicht per Dekret lösen.

STANDARD: Hat ein Abberufungsreferendum gegen Präsident Nicolás Maduro Aussicht auf Erfolg?

Sierra: Ich persönlich glaube nicht, dass das Referendum noch dieses Jahr stattfinden wird, es Neuwahlen gibt und die Opposition an die Macht kommt. Wahrscheinlicher ist, dass es erst nächstes Jahr stattfindet und dann Maduros Vizepräsident die Amtsgeschäfte übernimmt. Das Referendum ist nur ein konjunkturelles Problem, die wirklichen Herausforderungen liegen woanders.

STANDARD: Welche sind dies?

Sierra: Wir müssen Venezuela komplett ummodeln. Die Rolle der Streitkräfte, die zum Handlanger des Sozialismus umgebaut wurden, muss neu definiert werden. Die Unabhängigkeit und Kontrolle der Institutionen müssen wieder garantiert werden. Wir müssen ein neues politisches Modell finden, das sowohl demokratische als auch soziale Aspekte berücksichtigt. Die nationale Produktion muss gemeinsam mit Gewerkschaften und Unternehmern wiederbelebt werden. Dazu hat keine politische Kraft allein die Legitimität. Selbst wenn die Opposition an die Macht kommt, hat der Sozialismus noch großen Einfluss in der Bevölkerung und kann Massen auf der Straße mobilisieren.

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Große Teile der Bevölkerung befürworten eine Absetzung des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro.
Foto: REUTERS/Marco Bello

STANDARD: Venezuela braucht also eine Einheitsregierung?

Sierra: Zumindest einen ernsthaften Dialog. Und den sehe ich erst nach den Regionalwahlen und nach dem Abberufungsreferendum, weil dann, wenn die Opposition gewinnt, eine Art machtpolitisches Patt herrscht und das politische Spiel derart blockiert ist, dass beide Seiten bei Verhandlungen etwas gewinnen können.

STANDARD: Aber kann das Land noch so lange warten?

Sierra: Das ist nicht vorhersehbar. Neben den politischen Akteuren haben wir weitere, die sehr mächtig sind und aus irgendeiner Motivation heraus einen Gewaltausbruch anzetteln können. Ich rede hier von den Mafiabanden. Deren Spektrum reicht von Schwarzmarkthändlern über linke paramilitärische Gruppen bis zu Drogenbanden. Sie beherrschen die Straße, haben modernste Waffen und sind in der Lage, auf Zuruf nicht nur Gefängnisse, sondern ganze Städte lahmzulegen. Sie haben bisher keine politischen Ambitionen gezeigt, aber sie sind ein destabilisierender Faktor.

STANDARD: Auch die Streitkräfte sind einflussreich. Ist nicht auch eine Militärregierung oder eine zivil-militärische Junta denkbar?

Sierra: Die Streitkräfte wurden auf den Sozialismus umgetrimmt und sind heute Teil der Regierung. Einen Putsch halte ich daher nicht für sehr wahrscheinlich. Was passiert, wenn das soziale Pulverfass explodiert, und wer davon profitiert, ist schwer zu sagen.

STANDARD: Welche Rolle spielen die USA? Gibt es den von Präsident Maduro so oft genannten Wirtschaftskrieg wirklich?

Sierra: Die USA sind sehr aktiv, setzen aber auf eine interne Lösung des Problems. Venezuela war für sie lange ein geopolitischer Störfaktor. Aber nachdem in Argentinien und Brasilien nun bürgerliche Regierungen an die Macht gekommen sind und nach der Normalisierung der Beziehungen mit Kuba gilt Venezuela nicht mehr als ernsthafte Bedrohung. (Sandra Weiss aus Caracas, 12.8.2016)