"Die Türkei erlaubt Sex mit Kindern", so oder ähnlich konnte man es in den vergangenen Tagen in österreichischen, deutschen und Schweizer Medien lesen. Auch die schwedische Außenministerin Margot Wallström übte auf Twitter scharfe Kritik an einem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts, das Pädophilen angeblich Tür und Tor öffnet.

Die Regierung in Ankara fühlt sich an den Pranger gestellt und bestellte deswegen den österreichischen Chargé d'Affaires ein, auch wegen einer Krone-Schlagzeile, die am Flughafen Wien-Schwechat zu lesen war. Vizepremier Mehmet Simsek kanzelte Wallström ab, sie solle sich erst einmal richtig informieren. Der Botschafter wurde vorgeladen.

Die Rechtslage ist freilich etwas komplizierter, als es das Empörungsniveau vermuten lässt. Das türkische Verfassungsgericht hatte der Beschwerde eines Bezirksgerichtes stattgegeben. Die Richter hatten bemängelt, dass das Recht sexuelle Handlungen im Fall von unter 15-Jährigen grundsätzlich als Missbrauch und Vergewaltigung bestraft und damit auch einvernehmlichen Sex von Zwölf- bis 15-Jährigen kriminalisiert.

Differenzierung bei Zwölf- bis 15-Jährigen

Die obersten Richter gaben ihren Kollegen recht, plädierten aber für eine Differenzierung: Sex mit Kindern unter zwölf Jahren bleibe strafbar. Zwölf- bis 15-Jährige seien dagegen in der Lage zu verstehen, was sexuelle Handlungen seien. So berichteten es türkische Medien.

Ähnliche Regelungen über das Schutzalter – das Alter, ab dem Jugendliche im juristischen Sinn als einwilligungsfähig angesehen werden – gibt es auch in Europa. In Österreich liegt die Altersgrenze wie in Deutschland, mit Einschränkungen, bei 14 Jahren.

Doch das Justizministerium widerspricht der Darstellung in den Medien. Das Verfassungsgericht habe in den letzten zwei Monaten zwei Paragrafen annulliert, die das Strafmaß für Missbrauch und das Strafmaß für Vergewaltigung regeln. Bei beiden geht es um den Schutz von Kindern unter 15 Jahren und nicht einwilligungsfähigen älteren Jugendlichen. Die Regierung werde bis zu der vorgegeben Frist im Dezember neue Gesetze schaffen, so das Ministerium. Bis dahin bleiben die alten in Kraft. Von einer Gesetzeslücke bei Kindesmissbrauch könne keine Rede sein.

Kaum öffentliche Debatte

Die Regierung steht ohnehin in dieser Sache in der Kritik: Als im Frühjahr publik wurde, dass ein Lehrer in einer mit dem Präsidenten verbandelten religiösen Stiftung jahrelang Buben missbraucht hatte, versuchte die Regierung, dies zu vertuschen.

Wie umstritten der Entscheid war, zeigt die knappe Mehrheit von sieben Ja- gegen sechs Nein-Stimmen im Verfassungsgericht. Kinderschutzverbände kritisierten das Urteil. Bei Beischlaf zwischen 60-Jährigen und 15-Jährigen könne kaum von Einvernehmen die Rede sein, sagte die Professorin Aysun Baransel. Falls kein entsprechendes Gesetz erlassen werde, würden Kinderschänder frei herumlaufen. Ihre Mahnung gleich nach Bekanntgabe des Urteils Mitte Juli ging dann aber im Lärm des Putschversuches unter.

Die Debatte um die Vorladung von Diplomaten wegen Berichten hat jedenfalls die Diskussion um die Sicht Ankaras auf die Pressefreiheit erneuert. Sie steht ohnehin wegen Einschränkungen in Kritik. Der nach einer Anklage ausgereiste Chefredakteur von "Cumhüriyet", Can Dündar, legte am Montag seinen Posten nieder. (Inga Rogg aus Istanbul, 15.8.2016)