In dieser namenlosen bulgarischen Stadt wohnt Gott sicher nicht: "Godless" von Ralitza Petrova.


Foto: Festival Locarno

Auszeichnung für den besten Film: Ralitza Petrova.

Foto: Festival Locarno

Ein Filmfestival zu programmieren ist keine leichte Aufgabe. Eines zu positionieren ist noch viel schwieriger. Die Reputation will gesichert und verbessert werden, während der Wettkampf um attraktive Namen oft genug von Vermarktungsstrategien und unsichtbaren Seilschaften entschieden wird. Und weil Filmfestspiele keine Museen sind, bei denen publikumsträchtige Ausstellungen die Kassen klingeln lassen – die begleitenden Retrospektiven werden häufig nur im Vorfeld wahrgenommen -, sind sie besonders stark auf ein eigenständiges Profil angewiesen. Im Spiel der Mächtigen kann man, wie es die Berlinale seit Jahren vormacht, kontinuierlich an künstlerischer Bedeutung verlieren. Oder man schafft sich, wie es keinem anderen Filmfestival in den letzten Jahren so gut gelungen ist wie Locarno, für den Wettbewerb eine unverwechselbare Nische, indem man auf anspruchsvolles Autorenkino setzt.

Das bedeutet natürlich nicht, dass man deshalb im Tessin gänzlich auf Stars und ein wenig Glamour verzichten kann. Doch dafür gibt es die Piazza Grande, die sich allabendlich in ein riesiges Freiluftkino verwandelt und auf der auch heuer so mancher Ehrenleopard, etwa an US-Schauspieler Harvey Keitel oder B-Picture-Legende Roger Corman, verliehen wurde. Im Concorso Internazionale hingegen regiert seit Jahren ein unabhängiges und vor allem risikofreudiges Filmschaffen, das bereit ist, Experimente und Wagnisse einzugehen.

Ein solches Kino der Vielfalt muss jedoch die nötigen Voraussetzungen vorfinden, um überhaupt entstehen zu können. Und diese werden angesichts eines angepassten Arthousekinos, das dem Druck des Marktes zunehmend nachgeben muss, immer schwieriger. Fünf Jahre musste etwa die argentinische Filmemacherin Milagros Mumenthaler trotz ihres international beachteten Debüts warten, ehe sie nun in Locarno ihren Zweitfilm La idea de un lago präsentieren konnte. Und sechs Jahre dauerte es, bis die renommierte deutsche Regisseurin Angela Schanelec Der traumhafte Weg realisieren konnte. Nichts ist heute einfacher, als mit einer billigen Digitalkamera einen Film zu drehen, wie auch Schanelecs Produzent bei der Pressekonferenz anmerkte. Doch die finanzielle Basis für einen ästhetisch avancierten Autorenfilm zu schaffen wird zur immer größeren Herausforderung.

Dass heuer knapp die Hälfte der Wettbewerbsfilme aus Frauenhand stammte und zahlreiche Arbeiten – wie Michael Kochs überzeugendes Drama Marija mit Margarita Breitkreiz – von starken Frauenfiguren erzählten, war in Locarno übrigens eine Selbstverständlichkeit.

Als im besten Sinne herausfordernd sollte sich auch Godless von Ralitza Petrova erweisen, der schließlich mit einem Goldenen Leoparden als bester Film ausgezeichnet wurde. Die junge bulgarische Filmemacherin erzählt in ihrem Langfilmdebüt von einer verschlossenen, ihrer Umwelt trotzig begegnenden Altenpflegerin, die sich zusehends in kriminelle Machenschaften verstrickt. Gana (Irena Ivanova) stiehlt bei ihren Wohnungsbesuchen ihren Patienten die Identitätskarten, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen – bis ein "Unfall" zu schwerwiegenden Komplikationen führt. Armut und Korruption bestimmen den Alltag in dieser entlegenen, namenlosen Stadt, doch Petrova mischt diesem Sozialrealismus, der mitunter an die Arbeiten der Brüder Dardenne und an das neue rumänische Kino erinnert, etwas ganz Eigenständiges bei: Sie verleiht ihrer Protagonistin trotz deren moralischer Verwerflichkeit eine erstaunliche Würde – und Menschlichkeit. (Michael Pekler, 15.8.2016)