Wien – Jeder Fünfte im Alter von 15 bis 24 Jahren in Österreich hat psychische Probleme. Vier bis fünf Prozent – immerhin fast 50.000 Jugendliche – kämpfen mit schweren oder chronischen psychischen Beeinträchtigungen, wie eine Studie der Johannes-Kepler-Universität Linz und des Instituts für Berufs- und Erwachsenenbildung im Auftrag des Sozialministeriums zeigt.
Bisher wurde die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen nur über das Schulsystem erfasst, es fehlten daher Daten zu Jugendlichen, die weder arbeiten, noch eine Ausbildung absolvieren. Im Fachjargon nennt man das NEET: Not in Education, Employment or Training. Dabei sind, wie die Studie zeigt, gerade diese Jugendlichen am stärksten betroffen: Von ihnen kämpfen 15 Prozent mit schweren oder chronischen psychischen Problemen; bei jenen, die auch nicht als arbeitssuchend gemeldet sind, steigt dieser Anteil sogar auf 20 Prozent.
"Da gibt es einen Verstärkungsprozess, einen Teufelskreis", erklärt Studienleiter Johann Bacher: Einerseits verstärkt die Beschäftigungslosigkeit vorhandene psychische Probleme wie Depressionen oder Angststörungen. Umgekehrt können psychische Probleme aber auch dazu führen, dass die betroffenen Jugendlichen die Jobsuche ganz aufgeben und sich immer mehr aus der Gesellschaft zurückziehen.
Für ihre Studie wertete das Team um Bacher und Christina Koblbauer unter anderem Daten des Mikrozensus von mehr als 3000 15- bis 24-Jährigen sowie administrative Daten von 100.000 Jugendlichen aus Oberösterreich aus. Qualitative Interviews einer früheren Studie zu NEET-Jugendlichen wurden ebenfalls neu analysiert und in die Auswertung mit einbezogen. Eines der Ergebnisse: Gerade Jugendliche mit psychischen Problemen gehen besonders früh von der Schule ab. Auch das ist, so Bacher, Ursache und Wirkung in einem: "Das ist das gleiche Henne-Ei-Problem – wir haben da ein Wechselverhältnis." Die Ursachen sind aber keineswegs nur in der Schule zu suchen.
Zwar kann etwa auch Mobbing zu psychischen Problemen führen, es gebe aber immer ein Ursachenbündel. "Ein einziger Risikofaktor wirft niemanden aus der Bahn, auch keinen Jugendlichen, aber es hat sich gezeigt, dass die Risikolagen häufig kumulieren", sagt der Soziologe.
Bei vielen gebe es auch Schwierigkeiten in der Familie, die oft bis in die frühe Kindheit zurückreichen. In der interdisziplinär angelegten Analyse wurde sogar ein Zusammenhang mit einem geringen Geburtsgewicht – in Kombination mit anderen Faktoren – gefunden: "Bei vielen könnte man die Gefährdung schon bei oder vor der Geburt erkennen", meint Bacher.
Er plädiert daher dafür, möglichst früh einzugreifen und Unterstützung anzubieten, idealerweise schon vor der Schule, "aber auch im schulischen Bereich könnte früher interveniert werden." Wenn Probleme immer weiter aufgeschoben werden und sich summieren, drohe irgendwann der Schulabbruch und in der Folge eine Perspektivenlosigkeit. Die beschlossene Ausbildungspflicht bis 18 Jahre sei daher grundsätzlich positiv, so Bacher. "Wichtig ist aber, dass auch entsprechende Angebote zur Verfügung gestellt werden."
Begleitende Psychotherapie
Daran wird im Sozialministerium gearbeitet: Im Zuge der neuen Ausbildungspflicht – sie gilt erstmals für diejenigen, die mit Herbst 2017 ihre Schulpflicht beenden – gebe es auch zusätzliche Mittel für Angebote, kündigt Thomas Schüller von der Sektion Arbeitsmarkt an. Seine Kollegin Sonja Schmöckel ergänzt: "In erster Linie geht es darum, die Jugendlichen im System zu halten, den Drop-out zu verhindern."
Dafür müsse man stärker auf die Schwierigkeiten von Jugendlichen eingehen und beispielsweise vermehrt Psychotherapie anbieten. Derzeit werde etwa mit den Sozialversicherungsträgern verhandelt, um in einem Musterprojekt kostenlose Psychotherapie an Produktionsschulen zu ermöglichen. Diese Schulform, an der sich Jugendliche beruflich orientieren und weiterbilden können, gibt es mittlerweile in ganz Österreich. Schätzungen zufolge benötigen etwa 15 Prozent der dort in Ausbildung befindlichen Schüler psychotherapeutische Angebote.
Um diejenigen zu erreichen, die bereits aus dem Jobmarkt herausgefallen sind, setzt man im Sozialministerium auf niederschwellige Angebote und Projekte. Da gibt es zum Beispiel das Fußballprojekt "Tore für meine Zukunft": Dabei laden Trainer des SC Wiener Viktoria betroffene Jugendliche zum Fußballtraining ein – Basisbildung und Jobcoaching inklusive. "Das Projekt läuft toll, und Sport wirkt nicht nur motivierend und verbindend, sondern bildet auch viele Arbeitstugenden ab", sagt Schüller.
Längerfristige Nachbetreuung
Auch das Jugendcoaching soll in den nächsten Jahren schrittweise erweitert werden, um beschäftigungslose Jugendliche zu erreichen, kündigt Schmöckel an. Zudem arbeite man an einer besseren Vernetzung der verschiedenen Betreuungssysteme. Gerade in diesem Punkt gibt es laut der Studie der Uni Linz besonders großes Verbesserungspotenzial: "Zusammenarbeit und Vernetzung zählen zu den Hauptproblemen – viele Einrichtungen arbeiten sehr isoliert", sagt Bacher.
Wichtig wäre aber auch eine Nachbetreuung, wenn ein Job gefunden wurde: Damit die Jugendlichen nicht erneut in die Beschäftigungslosigkeit geraten, müsste man Jobangebote mit psychosozialer Betreuung und Begleitung verbinden. Bacher: "Jedes Herausfallen macht den Neueinstieg schwieriger – und den Aufwand dafür wesentlich größer."
Gleichzeitig plädiert der Forscher dafür, den Betroffenen etwas Zeit zu lassen: "Man kann bei einem Jugendlichen mit psychischer Beeinträchtigung und einer langen Vorgeschichte, die schon in der Kindheit beginnt, nicht erwarten, dass eine halbjährige Maßnahme alles auflöst." Kostendruck und Sparmaßnahmen lässt Bacher in der Diskussion darüber nicht gelten: "In unserer Gesellschaft haben einzelne einen Anspruch darauf, dass ihnen geholfen wird, aus Notlagen wieder herauszukommen – auch wenn das etwas kostet." (Heidemarie Weinhäupl, 21.8.2016)