Wenn Stefan Thurner träumt, jongliert er mit Zahlen so, dass aus diffusen Wolken konkrete Pläne werden – zum Beispiel um medizinische Behandlungen zu verbessern.

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STANDARD: Komplexitätsforscher können aufzeigen, wie Krankheiten global entstehen und wie sie verlaufen. Zum Beispiel Zika: Da spielen Gesundheitsdaten aus betroffenen Ländern genauso eine Rolle wie Verhaltensmuster – etwa Daten zum Flugverkehr, über den Infektionen verbreitet werden. Was wird die Zukunft bringen?

Stefan Thurner: Es wird mit Sicherheit möglich sein, Krankheitsverläufe individuell, nicht mehr nur für größere Bevölkerungsgruppen zu prognostizieren. Nicht allein aufgrund der Genomanalyse, sondern auch aufgrund der Geschichte der einzelnen Personen. Das erlaubt, die Menschen in Gruppen einzuteilen. Nehmen wir zum Beispiel Diabetes. Bisher wurde zwischen der Typ-1-Erkrankung, die hauptsächlich in jungen Jahren auftritt, und Typ 2, früher Alterszucker genannt, unterschieden. Doch bei genauerer Betrachtung der Gruppe der Typ-2-Diabetiker lassen sich wieder gut fünf Untergruppen erkennen: Menschen, die neben Diabetes immer die gleichen Muster von Nebenerkrankungen haben. Wir reden da etwas technisch von dynamischen, sich während eines Lebens laufend verändernden Co-Morbiditätsnetzwerken. Das gibt es für alle möglichen Krankheiten. Wenn man diese Netzwerke darstellen kann, wenn man also all diese Zusammenhänge versteht, wird die Vorhersagbarkeit von Krankheiten die Welt drastisch verändern.

STANDARD: Welcher Nutzen lässt sich daraus ziehen?

Thurner: Risikogruppen können erkannt werden, und man wird viel früher mit Therapien und Prävention gegensteuern können. Ein Patient mit Diabetes-Typ 2, der neben einem Medikament noch Insulin spritzt, ist ein gutes Beispiel. Da lässt sich untersuchen, wie viel mehr Patienten mit einer derartigen Diagnose und Therapie wie viel mehr Hirn-, Pankreas- oder Lebertumoren bekommen. Es ist bekannt, dass die Krebswahrscheinlichkeit durch künstliches Insulin steigt. Wenn ein Patient aber noch ein Medikament – zum Beispiel Statine zur Steuerung des Fettstoffwechsels – einnimmt, senkt das die Wahrscheinlichkeit für Tumoren wieder. Die Kombination von Medikamenten gegen zwei Erkrankungen hat also eine positive Wirkung auf ein drittes Risiko. Solche Zusammenhänge wird man vermehrt entdecken – und damit herausfinden, welche Medikamentenkombinationen bei welchen Patienten wie helfen.

STANDARD: Woher nehmen Sie die Überzeugung, dass das tatsächlich auf diese Weise gelingen wird?

Thurner: Ich bin mir sicher, weil die Analyse von bevölkerungsweiten Daten zeigen wird, was alles probiert wurde. Man wird immer genauer wissen, welche Medikamente die Menschen gegen ihre Leiden nehmen und welche Nebenwirkungen auftreten. Ganze Krankheitsklassen werden damit auf wenige Ursachen zurückzuführen sein, weil die bevölkerungsweiten Daten zeigen werden, dass sich in einzelnen Krankheitsverläufen viele Dinge immer wieder wiederholen. Das ist allerdings nichts, was in den nächsten Jahren passieren wird, da liegt noch viel Forschung am Weg.

STANDARD: Werden so auch die Ursachen für Krankheiten entdeckt werden?

Thurner: Wenn die bevölkerungsweiten Gesundheitsdaten mit molekularen Daten aus Gendatenbanken zusammengeführt werden, ja. Denn dabei können Krankheiten genauer definiert werden als bisher. Da wird es dann keinen Zweifel mehr darüber geben, wie Krankheiten überhaupt entstehen. Und diese diffuse Wolke, die bei vielen Diagnosen entsteht – ein bisschen Genetik, ein bisschen Umwelteinflüsse, ein bisschen von beidem –, wird sich auflösen. Diabetes Typ 2 ist ja zum Beispiel genauso ein Fall. Niemand weiß wirklich genau, wie die Erkrankung entsteht, nur wodurch sie begünstigt wird.

STANDARD: Welchen Einfluss hat dieses Wissen auf das Gesundheitssystem und dessen Finanzierung?

Thurner: Großen Einfluss. Wenn Wissenschafter erkennen, dass Krankheit A unter ganz bestimmten Umständen nach einigen Jahren Krankheit B auslöst, lässt sich die Frage stellen, was die Behandlung von A und was die Behandlung von B kostet. Und plötzlich wird ersichtlich, wie hoch die Ersparnis ist, wenn bereits die Behandlung von A erfolgreich ist. Was ich sagen will: Man wird erkennen, welche Behandlungen medizinisch und welche ökonomisch sinnvoll sind. Man wird sehen, was man tun kann, wenn das Geld im Gesundheitssystem längst nicht mehr unbegrenzt vorhanden ist.

STANDARD: Wer sich eine medizinische Behandlung nicht leisten kann, fällt aus dem System. Sind die von Ihnen skizzierten Szenarien nicht die besten Voraussetzungen dafür, Ungerechtigkeiten in der medizinischen Betreuung nicht nur zu etablieren, sondern auch noch wissenschaftlich auf breiter Datenbasis zu begründen?

Thurner: Wie die Daten letztlich verwendet werden, hängt natürlich vom gesellschaftlichen Konsens ab. Im Prinzip würden die Erkenntnisse aus derartigen Analysen erlauben, das soziale Netz enger zu weben und eben genau darauf zu achten, dass die Menschen weniger als bisher durchrutschen. Es gibt einen medizinischen Nutzen für das Individuum und einen ökonomischen Nutzen für die Gesellschaft. Die Politik muss den kollektiven Willen bestimmen. Ich möchte aber nicht nur bei diesem sehr skeptischen Zukunftsszenario bleiben: Datenanalysen können Patienten auch das Leben leichter machen und so zu Einsparungen im Gesundheitssystem führen.

STANDARD: Inwiefern?

Thurner: Im Idealfall bekommt ein Patient, der sich krank fühlt, ein Rezept, holt sich das Medikament aus der Apotheke und wird wieder gesund. In vielen Fällen werden Patienten aber zu Fachärzten weitergeschickt. Wenn die nichts finden, schickt der Hausarzt die Patienten dann vielleicht auch noch zu weiteren Fachärzten – und irgendwann vielleicht sogar zum Psychiater. Patienten sind in so einem Prozess wie in einem Kreislauf, bestehend aus Diagnosen, Hoffnung auf Besserung und Enttäuschungen, gefangen. Die Daten zu diesen Überweisungen wird man in gar nicht so langer Zeit – selbstverständlich anonymisiert – mit Daten über das Wohlbefinden der Patienten matchen können. Aus diesem Abgleich lässt sich dann ganz eindeutig ableiten, welche Überweisung vielleicht unnötig war, die Patienten Zeit und das Gesundheitssystem Geld gekostet hat.

STANDARD: Lassen sich mit diesen Daten auch Simulationen entwickeln, die die Folgen einer Entscheidung im Gesundheitssystem zeigen?

Thurner: Ja. Wenn ich weiß, welche Patienten sich wie im Gesundheitssystem bewegen, wenn ich die Entscheidungen von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern kenne, kann ich den Computer ein Szenario errechnen lassen. Zum Beispiel: Was passiert, wenn ich einen bestimmten Arzt aus dem System entferne? Dann würde ich vielleicht in einem Land wie Finnland sehen, dass daraus mehrere Tausend Kilometer Autofahrt resultieren. Das könnte ich dann in den CO2-Footprint umrechnen.

STANDARD: Ist es möglich, das gesamte Gesundheitssystem eines Landes zu simulieren?

Thurner: Ja. Ich kann zum Beispiel Österreich mit fast neun Millionen Menschen simulieren und natürlich auch planen und sehen: Was wäre der Nutzen, wenn man hier ein Krankenhaus baut, eine neue medizinische Fakultät eröffnet? Was wäre der Schaden in Bezug auf die Versorgungsqualität, wenn man es nicht mehr schafft, Ärzte in eine bestimmte Region zu bringen? Diese Daten in guter visueller Darstellung auf einem Touchpad mit der Möglichkeit, in Regionen reinzuzoomen: Das wäre für eine tiefgehende Gesundheitsplanung sicher sehr inspirierend. Bund, Länder, Krankenkassen, Ärztekammer würden auf der gleichen Datenbasis davon profitieren. Sie würden die Patientenströme, von denen sie ständig reden, tatsächlich kennen. Dann könnten alle Parteien auf einem ganz anderen Niveau diskutieren. Jetzt wird auf einer absolut irrationalen Basis, auf einem unsachlichen Niveau gestritten. Das ist teuer. Wenn keine Fakten existieren, bleibt nur die Emotion.

STANDARD: Gibt es die Daten nicht schon längst? Angesichts der Ängste und Blockaden ist die Frage doch, ob Politik und Gesellschaft überhaupt bereit für derartige Simulationen sind.

Thurner: Es stimmt. Es gibt viele Daten und damit zahlreiche berechtigte Ängste: Sie könnten Fakten offenbaren, die zu privat sind, die vielleicht auch von Meinungsmachern missbraucht werden. Natürlich könnte ein Demagoge seine Ideologie mit Fakten untermauern. Das stimmt schon. Daher sollten Daten, die die Bevölkerung betreffen und die Basis für Entscheidungen in der Gesellschaft sind, offen zugänglich sein. Dazu braucht es aber einen Gesetzgeber mit Weisheit, Stärke und Mut. Derzeit sind die Bemühungen in diesem Zusammenhang sehr zahnlos. Skandinavien ist da meilenweit voraus. Ich war bei einer Studie fast beschämt, wie offen dort mit Daten umgegangen wird. Das geschieht aber nicht aus Naivität, sondern auf Basis eines gesellschaftlichen Konsenses. Eine derartige Entwicklung wäre auch hierzulande wünschenswert. Dann ließen sich Daten aus dem Gesundheitssystem zum Beispiel mit Arbeitsdaten verquicken und man könnte sehen, ob unser Gesundheitssystem wirklich noch so gut ist, wie wir es aus den 1970er- und 1980er-Jahren gewöhnt sind, oder ob die Einklassenmedizin vielleicht doch längst ein Mythos geworden ist. (Peter Illetschko, CURE, 23.11.2016)