Unter 1000 brasilianischen Jugendlichen gibt es bei Pisa 2012 nur acht (!) mit guten oder sehr guten Mathematikleistungen. Dagegen wurden 671 als schlechter denn mangelhaft bewertet. Immerhin geben 85 Prozent zu Protokoll, in der Schule glücklich zu sein.

Suchen Experten nach Gründen, warum Brasiliens Bruttoinlandsprodukt 2015 um knapp vier Prozent und bis Mitte 2016 um weitere sechs Prozent absinkt, dann nennen sie den Rückgang der Rohstoffpreise, die Korruption bis in die Spitzen selbst der Arbeiterpartei, die Aufblähung konsumtiver Staatsausgaben für die Armen sowie den Verzicht auf das Ansammeln von Reserven während der Hochkonjunktur.

Die Kompetenz der Brasilianer wird so gut wie niemals thematisiert. Präsidentin Dilma Rousseff fügt eine "politische Krise" durch ihren unfreiwilligen Rücktritt am 15. Dezember 2015 als weiteren Krisenfaktor hinzu. Der beschleunigte den Anstieg der Arbeitslosigkeit von 6,2 Prozent Ende 2013 auf 11,3 Prozent im Juni 2016. Nicht einmal die Kürzung der Monatslöhne um vier Prozent seit Anfang 2015 auf durchschnittlich gerade noch 1,962 Reais (547 US-Dollars) kann die Entlassungen verlangsamen.

Niemand ist glücklich über bestechliche Beamte, instabile Verhältnisse oder staatliche Verschwender. Doch private Firmen berührt das nur indirekt. Sie müssen ihr Geschäft durch permanente Innovationen global verteidigen und rechnen wöchentlich oder sogar täglich ab. Eine einfache Industrie für Küchenherde, Kühlschränke oder Lieferwagen galt lange als Beweis für Brasiliens unaufhaltsamen Aufstieg. Die aber ist mittlerweile weitgehend ausgeschaltet, weil auf den Weltmärkten Besseres preiswerter angeboten wird.

Vorbild China

Die überlegenen Lieferanten produzieren ganz vorrangig in China. Noch 1980 macht sein Prokopfeinkommen nur ein Viertel des brasilianischen aus. 2015 jedoch hat es den enormen 1:4-Rückstand vollkommen wettgemacht. In Wirklichkeit ist die chinesische Aufholgeschwindigkeit noch um ein Vielfaches höher. Schließlich haben auch die Lateinamerikaner zwischen 1980 und 2013 ihre Leistung versechsfacht. 2016 allerdings liegt Brasilien nur noch um den Faktor vier über 1980. Während man die simplen Produktionsprozesse stetig verliert, ist niemand da, der das Land mit neuen Firmen auf eine höhere Stufe heben kann. In Ostasien hingegen funktionieren herkömmliche Industrien besser, während gleichzeitig die Hightech-Weltspitze angegriffen wird.

Im Juni 2016 meldet man aus Wuxi mit Sunway Taihu Light den weltschnellsten Supercomputer, der ausschließlich aus heimischen Komponenten gefertigt wird. Schon im Jänner 2016 wird auf der CES in Las Vegas bekannt, dass DJI aus Shenzhen 75 Prozent aller zivilen Drohnen ausliefert. Die eigentliche Sensation aber kommt mit einer Drohne für einen menschlichen Passagier von EHANG aus Peking. Damit ist die Definition einer Hightech-Nation erfüllt: Der Weltführer einer Branche hat auch den stärksten Verfolger im eigenen Land.

Merkmal Korruption?

Woher kommt diese Dynamik? Ist weniger Korruption der Grund? Mit China auf Rang 83, aber Brasilien nur auf Rang 76 bei Transparency International 2015 müssten die Südamerikaner vorne liegen. Offensichtlich geben andere Faktoren den Ausschlag. Erste Hinweise bekommt man durch einen Blick in das US-Patentamt, das potenzielle Neuerungen besonders erbarmungslos prüft. 2002 akzeptiert es 390 chinesische, aber lediglich 112 brasilianische Patente. 2015 erreicht China einen üppigen Vorsprung von 9004:381.

210 Millionen Brasilianer liegen ungefähr gleichauf mit 4,5 Millionen Neuseeländern, die 52 Patente durchbringen. Selbst Europas Langzeitpatienten – gut zehn Millionen Portugiesen und knapp elf Millionen Griechen – wachsen mit zwölf auf 67 bzw. 22 auf 77 Patente deutlich schneller als die Latinos. Von der Menge her bleibt auch das natürlich hoffnungslos.

Als die Brasilianer ihre Industrie 1980 optimistisch weiterentwickeln und dafür 2001 mit dem Bric-Siegel geadelt werden, setzt China gerade seine ersten Schritte in die Eigentumsökonomie, die immer wieder Wachstum benötigt, um die Zinsen aufs Geld zu erwirtschaften. Doch warum bleibt man in Südamerika auf einem mittleren Niveau stecken und schämt sich für verrottende oder gar nicht erst vorhandene Infrastruktur, während China bei der Hightech ins höchste Segment drängt? Weil Brasilien ungeachtet aller Zuwendungen für ärmere Eltern den Anteil seine Talente nicht merklich heben konnte. Es spricht auch nichts dafür, dass die kommenden Jahrzehnte anders ausgehen. Deshalb müssen sich seine Schulabbrecher den Heerscharen globaler Migranten anschließen. Das gilt selbstverständlich auch für die knapp 60 Millionen Menschen, die man am Amazonas bis 2050 noch hinzugewinnen will.

China hingegen sitzt aufgrund seiner Talente längst auch viel stärkeren Spielern im Nacken. Immerhin gehen auch die von den USA zwischen 1990 und 2007 verlorenen Industriearbeitsplätze zu 44 Prozent auf das Konto von Importen aus der Volksrepublik. Unter 1000 Pisa-Matheschülern erreichen bei der Weltmacht 88 eine gute oder sehr gute Bewertung, 258 enden jedoch ungenügend. Man steht durchaus besser da als Brasilien, aber Schanghai liegt an der Spitze gut sechsmal höher. Nun mag die Metropole an der Jangtse-Mündung mit ihrer Konzentration an Eliteschulen nicht repräsentativ sein. Macao oder Taiwan erlauben zuverlässigere Vergleiche. Dort scheitern 108 (Taiwan: 128) von 1000 Schülern, während 243 (Taiwan: 372) in Mathe glänzen. Auch dagegen bleibt Amerika – unter welcher Regierung auch immer – prekär. Gleichwohl kommt man – gegen Brasiliens Dreißigstel – immerhin auf rund ein Drittel der ostasiatischen Leistung. Deutschland rudert mit 177 Gescheiterten und 175 Erfolgreichen zwischen beiden Lagern. Mit Schweizer Werten – 124 unten, aber 214 oben – dürfte man entspannter sein. Immerhin liegt man vor Österreich (187 negativ, 143 positiv).

Vom Osten abkupfern

Wie soll es für Brasilien jemals aufwärtsgehen, wenn selbst westliche Topnationen gegenüber den Ostasiaten wanken? Noch verteidigen die USA den westlichen Technologievorsprung. Doch ohne ihre ostasiatischen Mitarbeiter steckten womöglich auch die US-Konzerne schon in ihrer Spätphase. Facebook etwa muss eine raffinierte Single-Platform-Kombination aus Messaging, Videokonferenzen, Kaufabschlüssen, Bezahldiensten etc. bei WeChat abkupfern, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Gleichwohl bebildern Zhang Xiaolong – der Entwickler von WeChat (2010) – oder seine 20-Millionen-Stadt Guangzhou nur selten hiesige Illustrierte. Und wer kennt schon die Namen von Xiaolongs einheimischen Wettbewerbern? Doch die sind es, die den erst 2011 gestarteten Marktführer – Facebook blüht seit 2003 – rastlos nach vorne treiben. Weil Chinesen vor allem Chinesen fürchten, kann der Economist im August spotten, dass "westliche Apps für chinesische Nutzer nur noch hoffnungslos veraltet wirken. Wer ohne WeChat unterwegs sein muss, erlebt das als Zeitreise in die Vergangenheit". (Gunnar Heinsohn, 17.8.2016)