Zu Beginn zwei Bilder: Auf dem ersten ist eine Demonstration auf dem Taksim-Platz während der Gezi-Proteste 2013 zu sehen, im Hintergrund die Fassade des Atatürk-Kulturzentrums. Darunter: derselbe Taksim-Platz, eine "Mahnwache für Demokratie" 2016, im Hintergrund die Fassade des Atatürk-Kulturzentrums.

Gezi, 2013
Foto: Can Gülcü

Bild nicht mehr verfügbar.

Gezi, 2016
Foto: REUTERS/OSMAN ORSAL

Es sind zwei Bilder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hier die Vielstimmigkeit und auch die Kakofonie des selbstorganisierten "Volksaufstands" Gezi, da die Demonstration der "nationalen Einheit" nach dem gescheiterten Putschversuch. "Hakimiyet Milletindir" heißt so viel wie "Das Volk/die Nation ist der Souverän", so beginnt der sechste Artikel der türkischen Verfassung. Zwei Fotos, die viel aussagen, aber nicht alles. Fotografie als Medium ist nun einmal nie in der Lage, alles auf den "einen" Punkt zu bringen, sondern hält immer einen Augenblick fest, der Türen zu verschiedenen Interpretationen öffnet.

Eine im Moment häufige, von einem nicht ganz unberechtigten Alarmismus aufgrund des Vorgehens der AKP-Regierung genährte Interpretation solcher und ähnlicher Bilder ist, dass sie Aussagen über die endgültige Verwandlung der Türkei in einen autokratischen Führerstaat unter Recep Tayyip Erdoğan treffen würden. Über das Bedrohungsszenario eines Landes in strategisch wichtiger Lage, regiert von einem unberechenbaren Despoten. Eines Land, das durch die Metamorphose seines "Führers" zu einer faschistoiden Langstreckenrakete werden kann. Eines Land, das nicht nur geopolitisch Schaden anrichten kann, sondern in der Lage und sogar gewillt ist, Wahlen hierzulande mitzuentscheiden.

Die österreichische Perspektive

Aus einer österreichischen Perspektive betrachtet sind solche verkürzten Interpretationen gar nicht so unverständlich. Die Türkei ist nun mal ein zehnmal größeres Land und um so viel komplexer und komplizierter als die kleine, noch einigermaßen heile Welt des nach außen durch die Neutralität, nach innen durch die Sozialpartnerschaft auf gesellschaftliche Harmonie getrimmten Österreichs.

Dass jene Formen des offenen Kampfs um die Hegemonie und solche Machtdemonstrationen, die die türkische Politik – von den Institutionen bis zu den Medien – seit jeher beherrschen, die Türkei für österreichische Beobachter undurchschaubar beziehungsweise gemeingefährlich wirken lassen, ist nachvollziehbar. Dass ein Land, das bereits seit den Achtzigern die schonungslose Umwandlung in einen populistisch, nationalistisch und in unterschiedlichen Abstufungen autoritär regierten neoliberalen Unternehmerstaat vollzieht, für Mitglieder der gesellschaftlichen Mitte in Österreich bedrohlich und dystopisch wirkt, ebenso.

Wenn sie denn jemals stattfinden sollte, steht Österreich eine solche Veränderung noch bevor. Nicht umsonst fürchten sich vernünftige, besorgte Österreicher vor fast nichts mehr als vor einer Wiederauflage von Schwarz-Blau, nämlich diesmal unter der Führung der FPÖ, und vor dem damit einhergehenden Auseinanderbrechen des Althergebrachten.

Noch ist nichts entschieden

Was solche und ähnliche Interpretationen allerdings übersehen, ist, dass all die Menschen mit ihren kleineren und größeren Anliegen, die während der Gezi-Proteste den Taksim-Platz besetzt hatten, nicht verschwunden sind oder sich in den vergangenen drei Jahren in fahnenschwenkende Erdoğan-Anhänger verwandelt haben. Sie sind "nur" in diesem einen historischen Augenblick nicht auf der Straße. Weil einige von ihnen – die politisch Aktiven – nun auch verfolgt werden. Und weil hier gerade eine zentral gesteuerte, auf Einheit und Einstimmigkeit pochende Machtdemonstration der neuen und auch teils alten Eliten stattfindet, in der viele – weniger politisch Aktive – ihre eigenen Geschichten der Verfolgung beziehungsweise des Widerstands (noch) nicht wiederfinden.

Noch nicht, weil eben noch nicht entschieden ist, was als Nächstes kommt. Ob jetzt weitere Schritte in Richtung eines sunnitisch dominierten autoritären, neoliberalen Regimes folgen werden oder ob doch eine Chance besteht, dass die Menschen, die nun zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße gehen, um gegen Gewalt und Unterdrückung zu demonstrieren, einen gemeinsamen politischen oder moralischen Ausgangspunkt mit den Opfern früherer Putsche und staatlichen Verfolgungen beziehungsweise (Vor-)Kämpfern für Demokratie entdecken, ist eine – noch – offene Frage.

Auch wenn die Drohgebärden österreichischer Politiker in Richtung der Türkei und vor allem der hier lebenden Türkeistämmigen aufgrund innenpolitischer Dringlichkeiten etwas panisch, aber nachvollziehbar erscheinen, stellt sich die Frage, wem sie über längere Sicht nützen sollen. Es ist unwahrscheinlich, dass Christian Kern oder Sebastian Kurz mit solchen Gesten potenzielle FPÖ-Wähler umstimmen können. Die alte, banale Rechnung von Schmied und Schmiedl gilt auch hier.

Dass im Moment aber eine Notwendigkeit besteht, die Demokratie beziehungsweise demokratische Kräfte in der Türkei zu stärken, dürfte unbestritten sein. Unter "demokratischen Kräften in der Türkei" aber nur die Linken und die Liberalen, die "westlich Orientierten" und die Kurden zu verstehen und nicht auch und vielleicht gerade vor allem jene teils "neuen" Demokraten, die gerade eher die Rettung Erdoğans feiern und weniger die Demokratie, wäre eine fatale Fehlinterpretation dieser Bilder.

Fundierte Kritik ist notwendig, Öl ins Feuer gießen weniger

Schlicht, weil es kein gesellschaftlicher Friede in der Türkei, aber auch hierzulande herzustellen ist, wenn man eine so große Gruppe von Menschen mit dem Regime gleichsetzt, dämonisiert, ins Eck stellt und in die Enge treibt – statt ihnen Möglichkeiten zu bieten, anstelle des Rückzugs in den inszenierten, kollektiven Machtrausch Schritte zur nur scheinbar gegenüberliegenden Seite zu machen. Deswegen "scheinbar", weil Bürger fast immer mehr gemein mit anderen Bürgern haben als mit machtfokussierten Eliten, so polarisiert die Gesellschaft auch sein mag.

Fundierte und harte Kritik an Erdoğan und dem Vorgehen seines Regimes anhand richtiger Informationen, Analysen und Interpretationen zu üben ist die eine Sache – als Politiker Öl ins Feuer, das nicht nur woanders, sondern auch hierzulande lodert, zu gießen eine andere. Man würde meinen, dass österreichische Politiker wie politisch Interessierte diesbezüglich aus dem Umgang mit FPÖ-Wählern gelernt hätten. (Can Gülcü, 18.8.2016)