Der Kleinste besiegt die Größten. Die Schwachen schlagen die Starken. Wer arm an Mitteln, aber reich an Ideen ist, kann ähnlich stattliche Gewinne einstreifen wie jene, die aus dem Vollen schöpfen. Wer indes dem Immateriellen den Vorzug gibt, wird am Ende als Sieger dastehen. Denn er hat, ohne dem schnöden Mammon nachzujagen, das Leben in seiner Fülle und mit all seinen überraschenden Wendungen ausgekostet, im Kreise Gleichgesinnter – und unter Beachtung eines allgemein anerkannten Regelwerkes. Eines Regelwerkes freilich, das zwar einige unumstößliche Prinzipien enthält, ansonsten aber jederzeit geändert werden kann – wenn alle einverstanden sind.
"Tarock, und vor allem das Königrufen, ist – wenn man das Wort Karl Poppers von der offenen Gesellschaft in die Welt der Kartenspiele übertragen will – ein offenes Spiel. Es lässt der Kreativität breiten Raum und nimmt begierig Elemente aus anderen Kartenspielen in sich auf." Es scheint fast, als beschrieben Wolfgang Mayr und Robert Sedlaczek damit in ihrem jüngst erschienenen dritten gemeinsamen Tarock-Buch – Die Kulturgeschichte des Tarockspiels - das Wesen jener multikulturellen Gesellschaft auf der Basis universeller Werte, die sich mehr denn je gegen Totalitarismus und Extremismus behaupten muss.
Das Leben als Spiel
Und wenn das Leben doch nur ein Spiel ist, dann wird es nirgendwo besser vorexerziert als im Tarock. Zum Beispiel im Fall des Sküs. Sein Name ist eine Verballhornung des französischen "Je m'excuse" ("Ich entschuldige mich" – dafür, dass ich ihn halt zugeteilt bekam). Denn er ist die höchste der 22 Tarockkarten – aber nicht immer.
Fällt er in einem Stich mit dem zweithöchsten Tarock, dem Mond (Verballhornung des französischen "le monde" – "die Welt"), und dem kleinsten Tarock, dem Pagat, zusammen, dann macht den Stich – der Pagat (vom italienischen "bagatto", "eine Bagatelle"). Der Winzling schlägt also den Mächtigsten, womit sich diesfalls eine Entschuldigung erübrigt.
Aber nicht jede Tarockrunde akzeptiert diese Regel. Wie auch das Renvers-Spiel (vom französischen "renversement", "Umkehrung"), bei dem die Welt auf den Kopf gestellt wird: Bei den Farben ist der König die niedrigste Karte, beim Tarock der Pagat die höchste. Die Ersten werden die Letzten sein. Zugleich ist Tarock eine veritable Schule des Lebens, die sich im wechselnden Mit- und Gegeneinander der Akteure und deren Umgang mit den 54 Karten entfaltet.
"Beim Tarock wird der Charakter offenkundig, und es werden alle Winkelzüge bloßgelegt: Ist man wagemutig oder hinterfotzig? Wie taktiert man? Ich würde nicht mit jedem tarockieren", hat Andreas Khol einmal gemeint. Dem leidenschaftlichen Tarockanten sind ja katholische Intrige wie Tiroler Schlitzohrigkeit nicht völlig fremd – Fähigkeiten, die beim Spiel zumindest nicht schaden, wie man annehmen darf.
Typische Widersprüche
Jedenfalls wird damit deutlich, warum Tarock gerade unter Politikern so beliebt ist. Nicht nur. Auch Journalisten und Künstler frönen diesem Laster, das umso genussreicher und zugleich harmloser ist, je entspannter und gleichzeitig konzentrierter man dabei bleibt – wiederum so ganz lebens- und tarocktypische Widersprüche.
Wolfgang Mayr und Robert Sedlaczek stammen selbst aus der Journalistenbranche. Ihr zweites gemeinsames Werk, nach dem Großen Tarockbuch, befasst sich mit der Strategie des Tarockspiels, gilt inzwischen als Standardwerk und ist in neuer, erweiterter Auflage erschienen. Neben ihren publizistischen Arbeiten haben sich die beiden mit anderen vielfältigen Aktivitäten unschätzbare Verdienste um Erhaltung und Förderung dieses trotz seiner italienischen Wurzeln so sehr österreichischen Kulturgutes erworben.
In ihrer Kulturgeschichte dokumentieren die beiden Autoren nicht nur höchst kurzweilig und kenntnisreich die Entwicklung des Spiels, sondern widmen sich auch ausführlich prominenten Spielern. Unter ihnen Peter Handke, der dem Tarock in seinem Buch Der Chinese des Schmerzes ein seitenlanges Denkmal gesetzt hat. Darin heißt es auch, dass Tarock wohl "das schönste Spiel" sei. Handke ist ihm erstmals als Kind begegnet, als er "unter dem Spieltisch herumkroch und durch Beobachtung der Füße feststellen wollte, wer gewinnt und wer verliert".
Die Bücher von Mayr und Sedlaczek bereichern, erfreuen, amüsieren ihre Leser. Fast so gut, wie das Tarock seine Spieler. Und das ist angesichts der Faszination dieses Spiels ein großes Kompliment. (Josef Kirchengast, 20.8.2016)