St. Pölten – Österreichs größtes Popfestival hat abgespeckt. Nachdem man im Vorjahr 15 Jahre "Festival-Madness" gefeiert hatte, wirkt diesmal alles etwas reduzierter. Neues, aber ungeliebtes Chipkarten-Bezahlsystem, weniger Commercial-Stände zugunsten ausgiebigerer Chillout-Zonen und ein Line-up, das nach Sparprogramm klingt. Auch vom "Artpark", einer Art Zirkus im Zirkus, der von Kleinkünstlern bespielt wurde, hat man sich verabschiedet.

Ausdifferenzierung geschieht auch woanders auf dem Gelände. Festivalbesucher müssen sich zwischen Green Camping, Luxus-Camping und ordinärem Camping entscheiden.
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Geblieben ist die breite Ausdifferenzierung. Auf einem Frequency-Line-up muss seit geraumer Zeit von Formatradio-Pop über Punk und Hip-Hop bis zur Elektronik jeder Gemütsregung des jungen Youtube-Zielpublikums Rechnung getragen werden. Erfreulich, dass dabei im Sog von Wanda/Bilderbuch (Österreichs Oasis/Blur) auch wieder mehr heimisches Popgeschehen unter Beobachtung steht.

Spitzt die Ohren bei Spliff und Bling-Bling: Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst.
Foto: APA/Herbert P. Oczeret

Recht schleppend kam das Festival am Donnerstag in die Gänge. Das perfekte Badewetter ließ vor Sonnenuntergang nur wenige vom Campingplatz aufs Festivalgelände strömen. Die, die früh gekommen sind, üben derweil das stilgerechte Binden des Männerdutts, jenes Haarknödels am oberen Hinterhaupt, der mit fortschreitendem Alter und Wechsel des Musikgeschmacks in seiner ausgedünnten Variante immer weiter nach unten wandert. Es ist dies die Festivalfrisur 2016. So viel steht fest.

Faszinierendes Multitalent

Jack Garratt trägt – obwohl mit allen Hipstercodes bestens bekannt – sein Haar lieber im Gesicht. Der 24-Jährige Alleinunterhalter vermengt in seinen Liedern Falsettgesang mit Dub- und Drum-'n'-Bass-Beats, schräge Gitarrenriffs mit Synthie-Sounds. Obwohl vor überschaubarem Nachmittagspublikum angetreten, gehörte er zum Besten, was das Festival bisher hergab. Garratt stößt an den Trommeln Schreie der Verzückung aus, wirft sich dann blitzartig umschaltend mit Volldampf in die Tasten und Saiten, übermütig wie ein Pubertierender bei ersten Klangexperimenten im Kinderzimmer. Musikalisch muss einem das wilde Stilamalgam nicht unbedingt gefallen, faszinierend anzusehen ist das Multitalent allemal. 2016 erschien sein Debütalbum "Phase".

Ein paar neue Lieder, das merkt man an allen Ecken und Enden, würden auch der seltsam versteinert wirkenden Posterboyband Bastille guttun. Im September kommt das zweite Album "Wild World" heraus. Das Frequency-Publikum war für die Londoner natürlich "fockin’ amazin’". Tatsächlich fühlten sich im Stehen einschlafende Hörer mancherorts zu spontanen Schüttaktionen hingerissen. Bei Teen-Rapper Jonas Schubert von OK Kid gab es derlei nicht. Zu Küchenpoesie à la "Ich halt den Kaffee für dich warm" fliegen ihm die Fingerherzchen nur so zu. Die Folkband The Lumineers erzählt vom Phänomen der in technologisch übersättigten Zeiten wiederentdeckten Wald-und-Wiesen-Romantik.

Helden am Olymp

Auf viel Gegenliebe, aber auch Skepsis ("Was findet ihr an denen nur so toll?") stießen Bilderbuch. Ihr erster großer Frequency-Auftritt nach der sensationell gelungenen Neuerfindung mit dem Album "Schick Schock" hatte seine Längen, war aber im Finish dank des dramaturgisch bestens inszenierten Hits "Maschin" noch richtig gut. Auflösungsgerüchten, genährt von einem lakonischen "baba" auf der Bandhomepage und mehrmonatiger Bühnenabsenz, machte man den Garaus: Ein neues, nach dem Überraschungserfolg umso wichtigeres Album steht vor der Tür.

Mit einem überdimensionierten Foto-Blitzlicht, Seifenblasen beim Song "Softdrink" und Sternspritzer-Pyrotechnik durfte man auf der Bühne richtig zulangen. Sänger Maurice Ernst, gehüllt in Heizdecke und Schlabberpulli, plauderte über den Werdegang der Band und zog Analogien zu Olympia-Athleten ("Man muss träumen können, genau wie diese Wahnsinnigen"). Den Rest der Show überließ man aber Gitarrist Michael Krammer und seiner Haarpracht: ein Bild von einem Männerdutt. Beim Titel "Plansch" öffnete er das Wunderwerk unter freudigem Gejohle im Scheinwerferkegel, ließ die Mähne wallen und setzte zum hinter dem Kopf gespielten Solo an. Man singt nicht umsonst Zeilen wie: "Gib dir mehr Zeit für dich und."

Einfallsreiche, bewegte Shows, wie man sie erwartet und kennt, gab es von den noch später spielenden Acts Deichkind und Damian Marley. Zu Star-DJ Paul Kalkbrenner ist zu sagen, dass er definitiv noch keinen Männerdutt trägt. Man muss schließlich nicht alles mitmachen. (Stefan Weiss, Sarah Brugner & Michael Luger, 19.8.2016)