
"Das Projekt einer universalen Kultur scheint in einer globalen Revolte gegen die kosmopolitische Moderne seinen chaotischen Tiefpunkt erreicht zu haben."
Nach Kants berühmtem Wort ist die Aufklärung der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". In Europa wurde dieser Ausgang möglich, als Menschen es "wagten, weise zu sein" – ihren Verstand einzusetzen, um die Wahrheit zu finden und ohne Vermittlung einer Obrigkeit einander Freiheit und Menschenrechte durch einen Gesellschaftsvertrag zu sichern.
Heute sollten wir es wieder wagen, weise zu sein: weise genug, um zu erkennen, dass die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ausgedient hat. Wir brauchen eine neue Aufklärung oder müssen zumindest versuchen, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszukommen, welche die alte Aufklärung zum Fetisch erhoben hat. Denn das von Montesquieu, Voltaire und Adam Smith im 18. Jahrhundert unterstützte, große Unterfangen einer universellen Kultur, in Einklang gebracht durch rationales Eigeninteresse, Handel, Luxus, Kunst und Wissenschaft – ein Projekt, das in den letzten zwei Jahrzehnten der wirtschaftlichen Globalisierung hektisch verfolgt wurde -, scheint in einer globalen Revolte gegen die kosmopolitische Moderne seinen chaotischen Tiefpunkt erreicht zu haben. In den politischen Kulturen der USA, Westeuropas und Israels wie auch im postkommunistischen Russland, Polen und Ungarn brodelt die demagogische Behauptung ethnischer, religiöser und nationaler Identitäten ebenso wie Hass auf diverse "Andere".
Erbarmungsloser Machismo
In den Tiraden zorniger weißer Männer und in den Dekreten rachsüchtiger islamischer, hinduistischer, buddhistischer oder jüdischer Chauvinisten bekommen wir einen erbarmungslosen Machismo zu spüren, der weder beschwichtigt noch zu verstehen versucht und schon gar keine Tränen des Mitleids angesichts der Notlage schwächerer Menschen vergießt. Diese müssen sich den zentralen Werten des Stammes unterwerfen, die von der Geschichte seiner Religion und Region bestimmt sind, sonst drohen ihnen Tod, Vertreibung und Ausgrenzung.
Seit 9/11 wurde viel über den "neuen islamischen Totalitarismus" geschrieben, den Salman Rushdie als "tödliche Mutation im Herzen des Islam" bezeichnete. Sinnvoller ist die Beschäftigung mit den dramatischen Mutationen im Herzen der von der Aufklärung eingeläuteten säkularen Moderne. Ihr erster Kritiker war Rousseau, getrieben von der Sorge, dass die von seinen Zeitgenossen angestrebte Gesellschaft den Fortschritt von Gleichberechtigung, Moral, Würde, Freiheit und Mitgefühl durch ihre Wertschätzung von Reichtum, Eitelkeit und Prahlerei eher behindern als vorantreiben würde. Die Philosophen der Aufklärung zeigten dann auch durch ihre Treue zur kriegerischen Despotin Katharina, wie Vernunft sich auch in Dogma und neue, weitreichendere Herrschaftsstrukturen wenden kann: autoritäre Staatsstrukturen und brutale, diktatorische Manipulation der bürgerlichen Angelegenheiten.
Stalins Russland sei durch die gnadenlose Vernichtung religiöser und rückwärtsgewandter Feinde nach 1930 zur exemplarischen Utopie der Aufklärung geworden, meint der Historiker Stephen Kotkin. Diejenigen, die den Kommunismus aus unmittelbarer Nähe erlebten, machen sich über diesen Bastard der Aufklärung keine Illusionen. Václav Havel dehnte seine Kritik des Kommunismus weiter aus, indem er sie auch gegen dessen Feinde richtete: die freie Welt.
Montesquieu, Kant, Havel
Havel behauptete, dass der von Amerika geführte Westen der Welt eine im Wesentlichen atheistische, technologische Kultur biete, zu deren Nebenprodukten eine tiefgreifende Autoritätskrise und der daraus resultierende Zerfall der Ordnung, ungezügelter Konsum, Solidaritätsverlust, ein egoistischer Kult des Materialismus sowie fehlender Glaube an eine höhere Macht oder einfach an die Ewigkeit seien.
Diesen geistigen und moralischen Verfall hatten Montesquieu und Kant nicht vorausgesehen, als sie eine universelle und kosmopolitische Kultur anstrebten. Ihre säkularen Ideale haben jedoch die Welt geprägt, in der wir leben. Es war die Aufklärung, die den "optimistischen Willen" schuf, wie Jacob Burckhardt es formulierte – den Glauben an Fortschritt, Vernunft und Wandel. Personifiziert wurde dieser quasireligiöse Glaube an den ständigen Fortschritt durch Intellektuelle – Schriftsteller, Wissenschafter, Soziologen, Historiker, Ökonomen. Vom Anfang der Moderne an unterwarfen sie sich zum Entsetzen Rousseaus einer für sie höheren Macht und größeren Bewegung – dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Geschichte. Der Inbegriff des Intellektuellen der Moderne ist trefflicherweise Voltaire, der zu den Begründern der Zivilgesellschaft gehörte und für Redefreiheit kämpfte, aber ebenso die Führungsschicht beriet und sich am internationalen Handel beteiligte. Statt eines Fortschreitens scheint sich der Kreis der Geschichte jetzt jedoch zu schließen.
Der überzeugendste und einflussreichste öffentliche Intellektuelle der Gegenwart – Papst Franziskus – ist kein Vertreter von Vernunft und Fortschritt. Es ist eine pikante Ironie, dass er die moralische Instanz jener Kirche ist, die der größte Widersacher der Intellektuellen der Aufklärung war, als diese das philosophische Gerüst einer universellen, wirtschaftlichen Gesellschaft errichteten.
Aufklärung nicht verklären
Wir können erst dann beginnen, über eine neue Aufklärung nachzudenken, wenn wir die alte Aufklärung nicht mehr verklären. Denn wie bei allen modernen Intellektuellen bestimmte für die Denker des 18. Jahrhunderts ihr jeweiliges Partikularinteresse ihre Ideologie. So wurden neue Ideen durch die Interessen von Menschen erzeugt, die Tocqueville als einfache, durch Handel reich gewordene Bürger charakterisierte. Die Philosophen wollten eine Neuordnung der Gesellschaft in dem Sinne, dass der Menschen eigenes Verdienst mehr zählen sollte als der Stand ihrer Geburt. Für sie bedeutete Fortschritt das grenzenlose Wachstum einer Gesellschaft, in der die Individuen frei, aber verantwortungsvoll, egozentrisch, jedoch aufgeklärt sein sollten.
So gründete Adam Smith seine politische Ökonomie auf die Vorstellung eines Menschen, dessen Wünsche durch die Wünsche anderer begrenzt sind und der nicht zu seinem Wohlergehen nach Wohlstand strebt, sondern weil andere danach streben. In seinem Werk Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) zeigte sich Kant dankbar für die "boshafte, wetteifernde Eitelkeit" und das "unstillbare Verlangen nach Besitz oder sogar Dominanz", da sozial vermittelte Bestrebungen "nach Ehre, Macht oder Eigentum" Menschen in einen "Aufklärungsprozess" führten. So konnte offenbar aus moralisch und rational eigenständigen Individuen eine Zivilgesellschaft geschaffen werden.
Viel hat sich in der Welt getan
Es hat sich jedoch in der Welt viel getan, seitdem ein paar nordamerikanische und europäische Denker über die ideale Gestalt der Menschheit spekulierten. Im Westen hat sich nicht sehr viel nach dem vernunftbestimmten Plan der Philosophen entwickelt, und anderswo noch weniger. Die Geschichte Europas im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat Voltaires furchtlose Respektlosigkeit gegenüber der Religion zum großen Teil inakzeptabel werden lassen – zum Beispiel seine Schmähung der Juden als geborene Fanatiker, die "es verdienen, bestraft zu werden". Es ist schwer, sich vorzustellen, was Philosophen der Aufklärung vom heutigen krisengebeutelten Europa halten würden, das, so Papst Franziskus, einer "abgehärmten Großmutter" ähnelt.
"Direkt vor unseren Augen", klagt Adam Michnik in seinem neuen Buch The Trouble with History, "sehen wir die Parade der korrupten Heuchler, dickhalsigen Ausbeuter und verachtungswürdigen Handlanger." Michnik behauptet, dass "es in unserer heutigen Welt keine großartige Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gibt". Aus diesem Grund gibt das reflexhafte Fetischisieren der Aufklärung zu denken, ebenso wie die Annahme, dass europäische Normen eigenständig und unverändert bleiben sollten, während sich alles andere in der modernen Welt verändert, und dass rückschrittliche Fremde sich ihnen bedingungslos unterwerfen sollen.
Teil der Risikogesellschaft
Es stimmt schon, dass die Globalisierung – insbesondere der beschleunigte Fluss von Kapital und Arbeitskraft – eine zutiefst verwirrende Erfahrung für Europas Sozialdemokratien darstellt. Die wirtschaftliche Rationalität hat die politische Vernunft gedemütigt, Führungskräfte dabei in träge Gefolgsleute verwandelt; die Finanzmärkte haben sich als grausamer, strafender Gott herausgestellt und viele junge Menschen ihrer Horizonte beraubt. Die angloamerikanische Invasion des Irak hat eine muslimische Minderheit in ganz Europa radikalisiert, während sie im Irak und in Syrien einen nihilistischen Todeskult hervorbrachte; sie provozierte Vergeltungsangriffe auf europäische Städte und verwüstete große Teile Asiens und Afrikas.
Aber Begriffe wie "islamischer Totalitarismus" und Reaktionen wie der "Krieg gegen den Terror" hätten vermieden werden sollen. Putin hat mit seinem Rückfall in eine antiwestliche Einstellung mehr europäisches Land erobert und mehr Menschen umgebracht. Vor nicht allzu langer Zeit, in den 1980ern, erlebte Europa extreme Gewalt von militanten Gruppen, von der IRA bis zur RAF. Internationaler Terrorismus begleitet seit seinem Ursprung im späten 19. Jahrhundert die Krisen der globalen Wirtschaft. Er ist ein unzertrennlicher Teil der "Risikogesellschaft", in der wir jetzt alle leben. Die opportunistischen Klischees der Politiker, Antiterroreinheiten und Leitartikelschreiber sollten uns nicht zu einer kontraproduktiven Eskalation der Gewalt, zu endlosen Kriegen, die nie Frieden bringen, oder zu einem apokalyptischen Kampf der Kulturen zwingen.
Nur fünf Prozent der Muslime in Frankreich, einer vielfältigen Gruppe, besuchen regelmäßig eine Moschee; fast 20 Prozent sind Atheisten. Alle Menschen der früher so genannten Dritten Welt sind "zur Modernität verurteilt", wie Octavio Paz einst schrieb. Muslime, Hindus und Buddhisten durchleben seit langem ihren eigenen Wandel von einer sakralen Welt sinnstiftender Symbole und Zeichen hin zu einer Welt der Ernüchterung, der objektiven und neutralen Fakten. In Europa erleben sie diese gefährliche Umstellung nicht als bürgerliche Händler, die über eine religiöse und aristokratische Elite triumphieren, sondern als arme Minderheit, die den Zwängen und Vorurteilen eines Staates ausgesetzt ist, mit dem sie eine lange und dunkle Geschichte des Imperialismus und des Rassismus verbindet.
Sinnloses Töten als Männlichkeitsbeweis
Einige dieser Muslime, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als grausamen Scherz empfinden, werden sich dem radikalen Islam und Gewaltverbrechen zuwenden – der Möglichkeit, durch sinnloses Töten Männlichkeit zu beweisen. Andere werden sich durch den Islam mit ihrem persönlichen Schmerz versöhnen. Das Versprechen von Gerechtigkeit wird noch andere reizen. Eine große Minderheit wird sich ganz von der Religion abwenden. Ein Teil von Europas muslimischer Bevölkerung könnte trotzdem gesellschaftlich konservativ bleiben. Das Weltbild eines tunesischen Maurers wird sich immer deutlich von dem eines pakistanischen Kebabverkäufers unterscheiden, geschweige denn von dem eines somalischen Taxifahrers. Man kann aber mit Sicherheit sagen, dass das beispielhafte Leben des Propheten für viele Muslime weiterhin ethische Verhaltensgrundsätze abstecken wird.
Dies ist großenteils auf die moralische Vernunft der Aufklärung zurückzuführen, wie sogar deren eloquentester Verteidiger der Gegenwart, Jürgen Habermas, zugibt: Sie ziele auf die Einsicht von Einzelnen und fördere keine Impulse zur Solidarität beziehungsweise zum moralisch gelenkten gemeinsamen Handeln. In einer Zeit, in der Geld mehr denn je zum Maß aller Dinge geworden ist, kann Säkularisierung zu sehr wie Entspiritualisierung, wenn nicht sogar Entmenschlichung wirken. Anzunehmen, dass "der Islam" sich "reformieren" und dem Fortschritt des Westens folgen soll, kann nur genau jene politischen Faktoren verschärfen, die zum heutigen Konflikt geführt haben.
Offenere Form der Demokratie
Eine offenere Form der Demokratie wird im unwiderruflich multiethnischen Europa zunehmend zum Gebot der Stunde. Es wird nicht leicht sein, sie zu erreichen. Wir müssen nicht nur gegen die Überzeugung ankämpfen, dass ausschließlich homogene Nationalstaaten den demokratischen Grundgedanken verwirklichen können. Wir müssen auch die Gefahren verstehen, die von überholten und zunehmend starren Begriffen der Zugehörigkeit und der Identität ausgehen. Denn das alte Versprechen der europäischen Nationalstaaten – wenn man sich integriert, genießt man die Privilegien einer auf dem Prinzip der Individualrechte basierenden Gesellschaft – gilt nicht mehr. Es scheint unumgänglich, dass Europas vielfältige Gesellschaften ihre Prinzipien auf eine Weise neu definieren, die explizit andere religiöse und metaphysische Weltanschauungen anerkennt.
Dazu müssen viele aus der Aufklärung stammende, überholte und ineffektive Gerüste aufgegeben werden. Die französische Denkerin Simone Weil erkannte schon Mitte des 20. Jahrhunderts, dass das alte, standardisierte Modell des Fortschritts ersetzt werden musste, weil die Werte des Individualismus und der Autonomie, die ursprünglich den modernen Menschen hervorgebracht hatten, seine moralische Identität und spirituelle Gesundheit bedrohten. In Die Entwurzelung (1943) einem Werk, das die Lektionen aus Frankreichs Kapitulation gegenüber Nazideutschland verdeutlicht, ging Weil so weit, den Begriff der Rechte aufzugeben. Im Nachspiel von Frankreichs katastrophaler Niederlage argumentierte Weil, dass eine freie und verwurzelte Gesellschaft aus einem Netz von moralischen Pflichten bestehen sollte. Wir hätten das Recht, verhungernde Menschen zu ignorieren, meinte sie, aber wir sollten verpflichtet sein, sie nicht verhungern zu lassen.
Während der Kriegsjahre war der französische Denker Jacques Maritain zu einer ähnlichen Diagnose über die Mängel des liberalen Individualismus gelangt. Danach half er mit, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu verfassen. Als Frankreichs Botschafter im Vatikan bereitete er den Boden für eines der erstaunlichsten Phänomene unserer Zeit: die Versöhnung der katholischen Kirche mit der modernen Welt und das erneute Auftreten des Papstes als angesehenste Verkörperung der moralischen Autorität der Gegenwart, nach zwei Jahrhunderten der Anbindung an konterrevolutionäre, gegen Modernität gerichtete Bewegungen.
Substanz des Menschen
Seltsamerweise haben die willkürlichen Anklagen dogmatischer Atheisten und Säkularisten gegen die Religion es geschafft, deren Beitrag zum Entstehen unseres gegenwärtigen Europas zu unterdrücken. Sicherlich ist Europa nach dem Krieg nicht christlicher oder frommer geworden. Aber sowohl Christdemokratie als auch Sozialismus, deren Dialektik nach dem Versagen des Liberalismus und den Katastrophen des Totalitarismus das Nachkriegseuropa wieder aufbaute, wären ohne Christentum unvorstellbar. Es ist kein Zufall, dass die Männer, die die Europäische Gemeinschaft gründeten – Alcide De Gasperi, Konrad Adenauer, Robert Schuman – alle Christdemokraten waren. Wie Gandhi sagte: Wer behauptet, dass Religion nichts mit Politik zu tun hat, versteht weder Religion noch Politik.
Freilich glaubt Jürgen Habermas mittlerweile, dass die "Substanz des Menschen" nur durch Gesellschaften gerettet werden kann, die wesentliche Teile ihrer religiösen Kultur in den säkularen Bereich einbringen können. Sein dramatisches Umdenken ist eines von vielen Anzeichen, dass die säkulare Moderne aus den Fugen geraten ist und nun eine breitere Definition braucht als jene des geistig und moralisch leeren Ökonomismus, der das politische und soziale Leben überall neutralisiert und herabgewertet hat.
Der Realität stellen
Wir müssen uns der Realität stellen: Die Vorstellung einer Universalgeschichte mit kosmopolitischem Ziel hat in der neoliberalen Globalisierung einen Endpunkt erreicht, und keine neue Weltordnung wird sich spontan aus ihren gewaltigen Ruinen erheben. Noch dazu kann die mittlerweile schwer geschädigte Umwelt den Aufklärungsplan einer vernünftigen Umstrukturierung und Mobilisierung aller Gesellschaften und aller Kulturen in die gleiche Richtung nicht mehr unterstützen. Da nun, nach einem Jahrzehnt politischer und wirtschaftlicher Tumulte, giftige Nationalisten mitten im Herzen des Westens in Erscheinung treten und das vereinfachte Paradigma des Islam gegen den Westen entwerfen, scheinen die Alternativen extrem zu sein: ein Rückzug in die Fantasiewelt einer ethnisch und religiös reinen Gemeinschaft oder einen neuen Weg finden, mit der Welt, mit leblosen Dingen und Lebewesen in Beziehung zu treten und das ethische Prinzip der Gleichheit zu wahren. Letzteres war es sicherlich, was sich Václav Havel vorstellte, als er schrieb, dass eine aufrichtige, tiefgreifende und dauerhafte Veränderung hin zum Guten nicht mehr aus dem Sieg eines bestimmten traditionellen Konzepts resultieren könne. Er meinte, dass eine solche Veränderung von der grundlegenden Neupositionierung der Menschen in der Welt, ihrer Beziehung zu sich selbst, zueinander und zum Universum herrühren müsse.
In unserem Zeitalter, das durch scheinbar unabänderliche strukturelle Ungleichheit, die breite Wahrnehmung eines Verlusts der Souveränität des Einzelnen und des Kollektivs und politisches Ressentiment gekennzeichnet ist, mag dies zu viel verlangt erscheinen. Aber wenn die Aufklärung "der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" war, dann ist diese Aufgabe, diese Pflicht, wie Kant schreibt, nie erfüllt; jede Generation muss sie unter wechselnden politischen und kulturellen Umständen erneut wahrnehmen, so wie es die Improvisatoren und Innovatoren der europäischen Nachkriegszeit vorgezeigt haben. Die Aufgabe derjenigen, die die Freiheiten der Aufklärung schätzen, besteht darin, diese Freiheiten neu zu denken – in unseren unwiderruflich durchmischten und extrem ungleichen Gesellschaften, in der weiteren, eng verflochtenen Welt – mittels eines Ethos der Kritik, gepaart mit Mitgefühl und grenzenloser Selbsterkenntnis. Nur dann können wir wirklich behaupten, aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit herausgekommen zu sein. (Pankaj Mishra, 20.8.2016)