STANDARD: Donald Trump wettert in den USA gegen Einwanderung und Freihandel. Die Briten haben sich mit großer Mehrheit für einen Rückzug aus der EU entschieden. Haben Sie je eine so globalisierungsfeindliche Stimmung erlebt?

Karl Aiginger: In den einzelnen Ländern gibt es seit der Finanzkrise größere wirtschaftliche Probleme. Zehn Jahre lang wurden sie nicht gelöst, sodass nun breite Bevölkerungsschichten offen geworden sind für extreme Ansichten. Sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite gibt es Kräfte, die auf Polarisierung setzen: Um Wählerstimmen zu maximieren, wird eine künstliche Außenbedrohung erschaffen. Die Globalisierung, ein Nachbarland, die Flüchtlinge. Es sind nie die wahren Ursachen für Verwerfungen, über die geredet wird.

STANDARD: Woran denken Sie?

Aiginger: An die Dürre. In Syrien hat ein Umweltproblem, eine große Dürre zwischen 2006 und 2010, zu großen Ernteausfällen und Stadtflucht geführt und damit zur Instabilität im Land, also zum Ausbruch des Bürgerkrieges beigetragen. Aber über dieses ökologische Desaster spricht keiner. In den USA sind es Umweltprobleme und die soziale Ungleichheit, die eine Krise verursachen. Die Einkommen im unteren Drittel sind seit gut vier Jahrzehnten nicht gestiegen, während von der Wohlstandsvermehrung nur das oberste Prozent profitiert hat. Das ist aber nicht die Folge der Globalisierung, sondern der amerikanischen Wirtschaftspolitik mit dem Traum, dass jeder Millionär werden kann, wenn er sich anstrengt.

Österreich orientiert sich bloß am Mittelmaß: Karl Aiginger, Wifo-Chef.
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STANDARD: Was hat man Ihrer Meinung nach falsch gemacht?

Aiginger: Globalisierung bedeutet in der ökonomischen Theorie, dass Länder mit niedrigeren Einkommen die Fertigung von einfachen Waren übernehmen, während Länder mit höherqualifizierter Bevölkerung verstärkt Hochtechnologie exportieren. Diese Arbeitsteilung erzeugt mehrheitlich Gewinner, ein Fünftel bis ein Drittel der Bevölkerung verliert dabei. Die US-Politik hat die Verlierer nicht entschädigt, nicht mehr Gleichheit zu einem politischen Ziel erklärt. Man hat sich nicht darum gekümmert, schlecht ausgebildete Industriearbeiter, die ihren Job wegen der billigeren Konkurrenz aus China verlieren, besser auszubilden, damit sie anderswo unterkommen. Eigentlich müssten die Amerikaner sagen: Wir sind selbst schuld an der Situation.

STANDARD: Kann man in einer globalisierten Welt Ungleichheit mit Umverteilung bekämpfen? Bevor Kapital höher besteuert wird, schafft man es außer Landes.

Aiginger: Umverteilung über Steuern ist schwieriger. Aber es gibt andere Möglichkeiten. In den USA ist der Widerstand gegen die Schaffung eines staatlichen Gesundheitssystems und gegen Pflichtversicherungen legendär. Das hat nichts mit Globalisierung zu tun. Beide Maßnahmen würden den sozial Schwachen zugutekommen. Ebenso haben die USA jahrzehntelang nicht verhindert, dass reiche Bürger Geheimkonten in Steueroasen wie der Schweiz einrichten. Dabei wäre es möglich gewesen, wie man heute an den internationalen Bemühungen gegen Steuerflucht sieht. Dass die Globalisierung der falsche Feind ist, sieht man auch in Großbritannien.

STANDARD: Weshalb?

Aiginger: Die britische Industrie ist seit Jahren im Niedergang begriffen. Die Industriequote liegt bei unter zehn Prozent. Aber das liegt daran, dass die Regierungen in London nicht in der Lage waren, vernünftige Industriepolitik zu machen. Die Forschungsquote ist niedrig geblieben, in die Qualifikation der Arbeiter wurde nicht investiert. In Österreich und Deutschland stand man vor den gleichen Herausforderungen, hat sie aber besser gemeistert. Die Industriequote liegt bei 20 Prozent. Hier wurde in die Ausbildung der Arbeiter und in Forschung investiert. Unternehmen haben stärker auf Qualität gesetzt.

Die Deindustrialisierung in Großbritannien schreitet voran. Im Bild: Arbeiter einer Stahlfabrik in Scunthorpe im Norden Englands protestieren gegen den Abbau von Arbeitsplätzen.
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STANDARD: Die globalisierungsfeindliche Stimmung hat auch Österreich erfasst. Viele machen die Ostöffnung der EU für die gestiegene Arbeitslosigkeit verantwortlich.

Aiginger: Österreich hat von jeder Marktöffnung in Richtung Osten profitiert. Die Zunahme der Beschäftigung aus Ungarn, der Slowakei und Rumänien war für die Wirtschaft positiv, weil sie im Tourismus und im Bau dringend benötigt wurde. Negativ ist, dass das heimische Wachstum in den letzten fünf Jahren niedrig liegt. Die nächste Stufe der Marktöffnung, von der Österreich profitiert hätte, wäre im Schwarzmeerraum gewesen. Durch die Unruhen in der Ukraine, Syrien, Libyen und Nordafrika ist diese Stufe weggefallen. Das hat uns Wachstum gekostet. Dass gerade in dieser Zeit eine Flüchtlingswelle einsetzte, hat die Probleme verschärft. Aber die Ursache für die schwache Grunddynamik liegt woanders.

STANDARD: Und zwar?

Aiginger: Wir haben uns zu lange darauf verlassen, mit mittlerer Ausbildung und mittlerer Technologie auszukommen, weil sich in unserer Nähe Märkte öffnen. In dem Moment, in dem das nicht mehr passiert ist, sind die Probleme zum Vorschein gekommen. Wir haben uns fast nirgends darum bemüht, zur absoluten Spitzengruppe vorzustoßen. Im Schulbereich hatten wir Erfolge in der vorschulischen Erziehung mit der Einführung des verpflichtenden Kindergartenjahres. Aber es wurde verabsäumt, Vorschulen und Grundschulen exzellent zu machen. In der Forschungsförderung sind wir zur oberen Mittelklasse aufgestiegen. Aber ehe wir ganz nach vorn gekommen wären, wurden die Anstrengungen in Universität und Forschung wieder eingebremst. In Österreich orientiert man sich meist am Mittelfeld und nicht an der Spitze.

STANDARD: Warum ist das so?

Aiginger: Ich denke, das hat damit zu tun, dass es uns nicht gelingt, einmal gemachte Ausgaben, die wir nicht mehr brauchen, zurückzudrängen. Verwaltungsreform ist ein Fremdwort. Bestehende Rechte werden verteidigt. Wir sehen das beim Bundesheer: viele Kasernen, viele Generäle, viele Militärspitäler, aber kein einsatzfähiges Bundesheer für internationale Probleme. Das haben wir akzeptiert. Die Ausgaben für das Bundesheer wurden gekürzt, nun aber, bei der ersten Gelegenheit, als das Unsicherheitsempfinden gestiegen ist, hat man die Ausgaben sofort wieder erhöht. Das Bundesheer ist glücklich, dass man wieder Flugshows machen kann.

Wenn beim Heer nicht gespart wird, sind Generäle glücklich.
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STANDARD: Ist es nicht ein Fehler der Ökonomen, immer von Verwaltungsreform allgemein zu sprechen? In Wahrheit ist es doch so: Wenn man etwas einsparen will, muss irgendwer seinen Job verlieren.

Aiginger: Ja. Für die kurzfristige Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Konjunktur ist es besser, wenn man das nicht tut. Aber die ökonomische Theorie besagt, dass es langfristig vorteilhaft ist, einen kurzfristigen Verlust zu akzeptieren, wenn man dafür Geld in die Hand nehmen kann, um zum Beispiel in Bildung zu investieren.

STANDARD: Ist das nicht ein Rezept, um der FPÖ bei der kommenden Wahl eine absolute Mehrheit zu beschaffen?

Aiginger: Wenn es die Erfolge nicht gibt, wenn man das Konzept nicht richtig erklären kann, führt das sicher zu Erfolgen der Populisten. Mit genug Leadership und Vorzeigeprojekten bin ich überzeugt, dass man das den Wählern verkaufen könnte.

Kann man den Populisten entgegentreten? FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache (Mitte) und Front-National-Präsidentin Marine Le Pen feierten zuletzt deutliche Zugewinne bei den Wahlen, von einer Regierungsverantwortung sind sie aber noch weit entfernt.
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STANDARD: Ökonomen streiten ausgiebig darüber, warum das Wachstum weltweit so schwach ist. Niemand hat eine richtige Erklärung. Ist es nicht an der Zeit zu sagen: Das Wachstum wird nicht wiederkommen, wir müssen lernen, damit zu leben?

Aiginger: Gesellschaftliches Ziel sollte nicht mehr Wachstum, sondern die Steigerung des Wohlbefindens und das Einnehmen einer ökologischen Vorreiterposition sein. Aber wir wissen aus Erfahrung, dass diese Ziele ohne Wachstum schwerer zu erreichen sind. Das Erste, was man in einer Krise einspart, sind die Ausgaben für Umweltschutz. Schauen Sie nach Südeuropa: Griechenland hat in der Krise keinerlei ökologische Ziele verfolgt. Solarenergie stagniert, Benzin wird importiert und belastet die Einkommen. In jedem Land, in dem das Wachstum zurückgeht, steigt die Arbeitslosigkeit und die Ungleichheit. Um das zu verhindern, brauchen Industrieländer weiter Wachstum.

STANDARD: Aber liegt das nicht an der Mentalität der Menschen? Bundeskanzler Christian Kern hat bei seiner Antrittsrede gesagt, Ziel müsse sein, mehr Wohlstand für die Kinder zu generieren. Was, wenn er als Ziele mehr Umweltschutz und weniger Ungleichheit genannt hätte?

Aiginger: Ich glaube an eine Zwei-Phasen-Theorie. In einer ersten Phase, über die kommenden zehn Jahre betrachtet, braucht es Wachstum, um die Lebensqualität der Menschen zu heben, danach nicht mehr in demselben Ausmaß. Wir können natürlich von einer Gesellschaft träumen, in der ohne Wachstum die niedrigen Einkommen steigen und ökologische Innovationen boomen. Aber so weit sind wir noch nicht. Heute muss es Wachstum vor allem durch Ansteigen der niedrigeren Einkommen und Investitionen in die Dekarbonisierung geben, nicht durch weitere Ausweitung der Staatsausgaben.

STANDARD: Und doch war der gesellschaftliche Wohlstand noch nie größer. Die Menschen in Industrieländern können sich heute im Schnitt mehr leisten als je zuvor. Trotzdem scheint die Unzufriedenheit zu wachsen. Muss man als Ökonom nicht auch einmal das thematisieren?

Aiginger: Das Medianeinkommen in Österreich liegt heute bei 1.900 Euro, im unteren Drittel beträgt der Verdienst unter 1.500 Euro im Monat. Ich traue mich nicht zu sagen, dass jemand, der unter 1.500 Euro im Monat verdient, zufriedener sein soll. Für ein Drittel der Menschen gilt, dass sie weder in der Wohnung wohnen, die sie sich erträumen, noch jene Urlaubsmöglichkeiten haben, die sie sich wünschen. Und wir sprechen hier über Österreich, also eines der drei reichsten Länder Europas. (András Szigetvari, 25.8.2016)