Nur noch dreimal schlafen, dann wird die vierfache Mutter Lynette Wari aus dem Fischerdorf Tufi zum ersten Mal in ihrem Leben fliegen. Nicht irgendwohin, nein. Zum Goroka-Sing-Sing, diesem wilden Steinzeitfestival, das Volksstämme aus ganz Papua-Neuguinea anzieht. Wo sich Verwandte und Freunde alle Jahre wiedersehen, wo Clans aus den entlegensten Bergdörfern in einem friedlichen Wettstreit um die fantasievollsten Kostüme und die verrücktesten Darbietungen gegeneinander antreten.

Für Lynette war das ein richtig guter Tag. Den Männern ist heute ein dicker Fisch ins Netz gegangen. Gut 30 Kilogramm wird der Schwarzspitzen-Riffhai auf die Waage bringen. Das reicht für das ganze Dorf.

Bares benötigt

Aber viel wichtiger als das Fleisch sind die Haifischflossen. Die werden getrocknet und dann an chinesische Händler verkauft. Nun gut, das sei verboten, das wüsste hier jeder, erklärt Lynette. Aber neben den Einkünften aus dem Tauchclub in Tufi sei das die einzige Möglichkeit in der Oro-Region, um an Geld zu kommen. Und Bares braucht man heute selbst in den entlegensten Provinzen des drittgrößten Inselstaats der Welt.

Drei Tage später ist es für Lynette und zwei Freundinnen endlich so weit. Barfuß betreten sie die staubige Rollbahn. Für Schuhe hat es nie gereicht. Niemand findet das merkwürdig oder verzieht verächtlich das Gesicht. Den ganzen Flug über klebt die junge Frau begeistert mit der Nase am Fenster und kann sich gar nicht sattsehen. Wie winzig doch alles von da oben aussieht. Ihr Dorf, wie Spielzeug.

Seit 1957 treffen beim Sing-Sing-Festival in Goroka rund 100 Clans aus ganz Papua-Neuguinea aufeinander.
Foto: Marc Vorsatz

In Goroka herrscht bereits Hochbetrieb. Bis zu 200.000 Gäste erwartet die kleine Provinzhauptstadt der Eastern Highlands. Das sind zehn Besucher auf jeden Einwohner. Die meisten kommen mit klapprigen, bunt angepinselten Bussen oder abenteuerlichen Pick-ups, die nur noch vom Rost zusammengehalten werden. Geschlafen wird bei Freunden, in angemieteten Lagerhallen oder sonst wo. Die wenigen Hotels haben die Studienreisenden aus Australien, den USA, aus Japan und Deutschland fest in Beschlag genommen. Aber die wären ohnehin astronomisch teuer, für viele mehr als ein Jahresgehalt.

Ein Krieger aus Papua-Neuginea bei der Aufnahme eines Selfies – fotografiert von Marc Vorsatz auf dem Sing-Sing-Festival in Goroka.
Foto: Marc Vorsatz

All das tut der Stimmung keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Vor den Performances im Stadion heißt es erst einmal ausstaffieren. Je wilder und archaischer, desto besser. Kamen früher ausschließlich biologische Farben zum Einsatz, wird heute mehr und mehr auf Chemie gesetzt. Der Renner ist Tipp-Ex. So etwas Schneeweißes bietet die Natur einfach nicht, nicht einmal in Neuguinea. Manch einer nennt einen kleinen Spiegel sein Eigen, ein anderer immerhin eine Spiegelscherbe. Und wer nicht einmal die besitzt, wird von seinem Visavis geschminkt beim größten Sing-Sing-Festival der Welt. So heißen diese fantastischen Spektakel mit einer Mischung aus Gesang, Percussion, Maskerade und szenischem Tanz. Dann geht es auch schon los.

Symbolischer Sieg über das Böse

Wie in Trance drehen 20 Jünglinge in brütender Hitze ihre Runden. Wieder und wieder. Pechschwarz geschminkt kommen die fast nackten Teenager und Kinder daher. Über ihren Köpfen tragen sie eine überdimensionale Schlange, die South Simbu Wild Snake. Die Kids scheinen längst in einer fernen Welt zu sein. Kein Wunder, feiern sie doch den symbolischen Sieg über das Böse, das am Fuße des Mount Wilhelm in eben dieser Schlange lebt.

Kontrastreich

Nebenan trommeln und singen sich grade die Peanut Group Mamas in Ekstase. Wie schillernde Paradiesvögel sehen die durchwegs korpulenten Damen aus. Die Haut rot-weiß getönt, ein dichter Strauß exotischer Federn auf dem Haupt, barbusig, nur mit Muschelketten und einer traditionellen Bilum-Tasche behangen und einen Bastrock um die Hüfte, das war's. Wie kontrastreich dagegen die Mud Men aussehen. Mit grauem Schlamm haben sich die Krieger komplett beschmiert, und auf dem Kopf tragen sie voluminöse Ganzkopfmasken aus schwerem Ton. Sie bewegen sich geschmeidig, wie in Zeitlupe, mit gespanntem Bogen und einem Pfeil in der Hand. Keine Attrappen, alle Waffen sind echt. Schon etwas unheimlich.

Archaisch und animalisch

Noch archaischer wirkt ein Clan vom Mount Hagen aus den Western Highlands. Animalisch und wild kommt die 15-köpfige Gruppe daher – mit gebogenen Wildschweinhauern im Gesicht, Lendenschurzen aus groben Lederhäuten, gespickt mit stacheligen Borsten an Kopf und Torso, bewaffnet mit jagderprobten Speeren. Im Dunklen möchte man diesen Männern nicht begegnen. Sie sehen schon am Tag ziemlich furchteinflößend aus und rufen Berichte von Kannibalismus in den unzugänglichen Gebieten im Hinterland des Sepik River wach – die sind allerdings über 100 Jahre alt.

Im friedlichen Wettstreit präsentieren rund 100 Clans fantasievolle Kostüme und symbolschwangere Tänze.
Foto: Marc Vorsatz

In den Jahren 1912 und 1913 unternahmen Deutsche die wissenschaftliche Kaiserin-Augusta-Flussexpedition und berichteten von Menschenfresserei. So hieß der Fluss während der deutschen Kolonialzeit bis 1914, und noch heute erinnern viele Namen an diese Zeit: Mount Otto oder die Bismarcksee zum Beispiel. Viele Orte wurden nach dem Ersten Weltkrieg umbenannt. Neupommern heißt jetzt New Britain, Neumecklenburg New Ireland. Dort wird sogar noch vereinzelt das sogenannte Unserdeutsch gesprochen, die weltweit einzige deutsch-basierte Kreolsprache.

Offiziell gibt es Kannibalismus in Papua-Neuguinea nicht mehr. Rituelle Tötungen und das anschließende Verspeisen des Feindes hatten eine wichtige spirituelle Bedeutung – wie in vielen anderen Teilen der Welt auch -, konnte man sich doch so die Kraft des Opfers einverleiben. Über Jahrhunderte dauerte der Kampf der Dörfer mit Brautraub und Blutrache an, der in manchen Regionen fast zum Exodus ganzer Ethnien führte. Dem war kaum beizukommen in einem gesellschaftlich zersplitterten Land, das so groß wie Deutschland und Österreich zusammen ist und wo sich aufgrund der Geografie über 800 eigenständige Sprachen und Dialekte herausgebildet haben und rund 900 Volksstämme praktisch ohne Infrastruktur nebeneinander leben.

Das kurze Video eines Besuchers des Sing-Sing Goroka im Jahr 2014.
MauriceMagicMovies

Bei allen Schattenseiten der australischen Inbesitznahme hatte die Kolonialverwaltung die geniale Idee, bereits 1957 das erste Sing-Sing-Festival in Goroka zu organisieren. Die Clans des Hochlands sollten sich in einem friedlichen Wettstreit mit Musik und Tanz messen, nicht in fortwährendem Töten. Die Rechnung ging auf, der Teufelskreis der Blutrache wurde vielerorts durchbrochen, ganze Regionen befriedet. Heute gibt es mehrere Sing-Sings über das Hochland verteilt, die Show in Goroka ist und bleibt jedoch das bedeutendste Festival seiner Art weltweit. Wirklich großes Kino auch für Ethnologen, Linguisten und Fotografen aus aller Herren Länder.

Zaungäste ab 15 Uhr willkommen

Um 15 Uhr ist es für Lynette und ihre Freundinnen endlich so weit. Dann dürfen sich einheimische Zaungäste kostenlos – und die ausländischen zahlenden Besucher – unter die Akteure mischen. Zu Tausenden strömen sie auf das Gelände. Von weit her sind viele gekommen, wie die drei jungen Frauen aus Tufi, um ausgelassen im Stadion zu feiern. Überall Tanz und Musik, die Alltagssorgen sind für einen Moment vergessen. Mit großen Augen bestaunen Kinder die wilden Krieger aus fernen Provinzen, die merkwürdige, nie gehörte Sprachen sprechen.

Für die Besucher aus Übersee bleibt wohl noch mehr unverständlich als das gesprochene Wort. Dieses Festival in einem ohnehin geheimnisvollen Land steckt voller Mythen und Zauber. (Marc Vorsatz, RONDO, 26.8.2016)

Foto: Der Standard