Wien – Unter den gestrengen Hauptvertretern des französischen "Nouveau roman" war Michel Butor der umtriebige, der heiter-spielerische Kopf. Mit ihm, der jetzt wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag gestorben ist, wird die ganze Stilrichtung zu Grabe getragen. Butor, am 14. September 1926 in der Nähe von Lille geboren, durfte wenigstens zur Anfangszeit seiner Arbeit erleben, wie man mit Formexperimenten Erfolge feiert.

Michel Butor auf einem Foto im Jahr 2012.
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Sein Roman "Der Zeitplan" (1956) gründete auf biografischen Erfahrungen: Ein junger Mann namens Jacques Revel zieht als Handelsmann für ein Jahr in eine nordenglische Industriestadt. Die Verstörung des Einsamen ist mit Händen zu greifen; sie wird durch eine Krimihandlung angefacht, die ohne erkennbare Folgen im Nichts versickert.

Im Vordergrund steht das Jonglieren mit den Elementen von Erzählzeit und erzählter Zeit. Das Jahr in der Fremde verfliegt, wie es scheint, im Nu. Doch bildet die Vielzahl an Schauwerten, an akribisch erfassten Details einen Schleier, der die Klarheit des Blickes empfindlich trübt und den Erzähler in der Illusion wiegt, er würde über seiner Geistesgegenwart das Entscheidende verpassen. Dieser so elegante wie mysteriöse Roman wurde erst kürzlich mit großem Echo auf Deutsch wiederaufgelegt.

Exponent einer Epoche

Butor, der Philosophie ohne Abschluss studiert hatte, ist der glänzende Exponent einer Epoche, die im "linguistic turn" des Strukturalismus noch einmal den Boden bereitet fand für literarische Grundlagenarbeit. Stadtpläne wurden von ihm als Palimpseste gelesen ("Die Stadt als Text"), die erst durch geduldige Lektüre ihre verschiedenen Bedeutungsebenen preisgeben. In dem Roman "Paris–Rom oder Die Modifikation" (1957) wird die Bahnreise eines Mannes zur Ersatzleistung des Lebens: Der Text fächert sich auf als Äquivalent eines schwebenden Verfahrens, wobei der Protagonist zwischen zwei Frauen steht und auf offener Strecke die Zügel herumwirft.

Butor, der die kristalline Reinheit von Gustave Flaubert liebte und aus der bildenden Kunst mannigfache Anregungen bezog, versuchte lange, im akademischen Betrieb Fuß zu fassen. Auf Vermittlung von Jean Starobinski lehrte er von 1974 bis 1991 in Genf. Das Geschäft des Romanschreibens hängte er nach dem vierten ("Stufen", 1960) an den Nagel. Die Vorgaben des Betriebs unterlief er absichtlich, indem er seine Kunst in einer Vielzahl von Essays und Betrachtungen, zuletzt auch in Gedichten genussreich verzettelte.

Verlässlicher Unruhegeist

Michel Butor blieb der verlässliche Unruhegeist im Feld des "Nouveau roman". Während Kollege Claude Simon sich autobiografisch nach Südfrankreich zurückschrieb und die eigenen Traumata mit der Katastrophe des 20. Jahrhunderts verrechnete; während Alain Robbe-Grillet mit Versatzstücken fesselnde Labyrinthbauten herstellte, war der vierschrötige Kollege in den legeren Latzhosen ein genialer Quertreiber, der "Die Wörter in der Malerei" erforschte und auf seinen ausgedehnten Reisen verblüffende Entdeckungen machte. Diese verwandelte er in Schrift. Deren potenzielle "Unendlichkeit" nahm er wie eine lustspendende Zumutung auf sich. Bei ihm durfte die Avantgarde noch einmal luftig-leicht sein.

Jetzt ist der 89-jährige Vater von vier Töchtern in Contamine-sur-Arve gestorben. (Ronald Pohl, 26.8.2016)