Pescara del Tronto nach dem Erdbeben. Aus der Luft wird das Ausmaß der Zerstörung sichtbar.

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Arquata del Tronto – Paola und ihre Cousine Lidia sitzen vor dem blauen Zelt des Zivilschutzes und wärmen sich an der Morgensonne: Sie haben, wie hunderte Erdbebenopfer in Mittelitalien, ihre erste Nacht im Zelt verbracht. Eine Nacht, der noch viele weitere folgen werden. Paola hat Tränen in den Augen: Vor wenigen Stunden ist der Bruder ihres Mannes tot aus den Trümmern seines Hauses geborgen worden, dessen beide Kinder werden immer noch vermisst. "Aber ich habe keine Hoffnung, dass sie noch lebend gefunden werden", sagt Paola.

Die beiden Frauen leben in Accumoli, einem der vom Erdbeben am stärksten betroffenen Orte. Ihre Häuser sind unbewohnbar, "aber sie stehen noch", wie Lidia sagt. Damit ist es ihnen besser ergangen als vielen Nachbarn: Ein großer Teil des historischen Zentrums des Bergstädtchens liegt in Trümmern. Großes Mitgefühl erregt in Italien das Schicksal einer vierköpfigen Familie aus Accumoli: Vater, Mutter und die beiden kleinen Kinder wurden – noch in ihren Betten liegend – tot aus den Trümmern ihres Hauses geborgen. Ihr Haus neben der Kirche war vom einstürzenden Glockenturm getroffen worden.

Auch Paola und Lidia können, wie die meisten Überlebenden, noch gar nicht fassen, was in der Nacht auf den Mittwoch passiert ist. "Zuerst dachten wir, wir würden träumen", sagt Paola. Am Abend vor dem Erdbeben hätten sie noch ein Fest gefeiert und seien dann relativ spät zu Bett gegangen – "zwei Stunden später war alles, was wir besaßen, zerstört".

Eine kalte Nacht

Es war eine kalte Nacht, im Erdbebengebiet sanken die Temperaturen unter zehn Grad. Trotzdem sind nicht alle, die beim Beben ihr Haus und Obdach verloren haben, in die vom Zivilschutz sofort bereitgestellten Zeltstädte gezogen. Viele Bewohner, die das Beben unverletzt überlebten, haben in der Nacht bei den Rettungs- und Räumungsarbeiten mitgeholfen.

In den inzwischen rigoros abgeriegelten Ortskernen von Amatrice, Accumoli, Arquata del Tronto und dem fast vollständig zerstörten Pescara del Tronto gingen die Rettungsarbeiten mit unverminderter Intensität weiter. Insgesamt sind neben Feuerwehrleuten und Soldaten 4.000 Zivilschützer im Einsatz. Die Helfer werden immer wieder von Nachbeben behindert; insgesamt wurden zwischen Mitternacht und sechs Uhr nicht weniger als 60 neue Erdstöße gezählt, der stärkste mit 4,5 auf der Richterskala.

Die vorläufige Opferbilanz verschlimmerte sich bis Freitag auf fast 270 Tote und rund 400 Verletzte. Eine endgültige Bilanz ist das noch nicht. Österreicher sind nach vorläufigen Informationen nicht zu Schaden gekommen. Urlauber und Auslandsösterreicher in der Region hätten gemeldet, dass sie wohlauf seien, hieß es in der Botschaft in Rom. Die Hilfsangebote der Regierung in Wien wurden vorläufig in Italien abgelehnt.

Tausende obdachlos

Auf der von Rom kommenden Via Salaria, die den größten Teil des Erdbebengebiets erschließt, ist ein Konvoi von Feuerwehr-, Armee- und Zivilschutzfahrzeugen unterwegs. Zwischen Amatrice, dem mit 2.650 Einwohnern größten vom Erdbeben betroffenen Ort, und dem rund 25 Kilometer entfernten Arquata di Pescara reihen sich Zeltstädte. Innerhalb von 24 Stunden wurden 4.000 Plätze bereitgestellt. Wie viele Menschen obdachlos geworden sind, konnte der nationale Zivilschutzchef Fabrizio Curcio noch nicht sagen. "Aber es sind Tausende." Im weißen Verpflegungszelt des Roten Kreuzes bei der Zeltstadt von Arquata sitzt die 89-jährige Cinzia mit von den vielen Tränen geröteten Augen und versucht, die von den Helfern servierte Suppe zu essen. Die Pensionistin hat das Beben wie ihr Mann, der stumm neben ihr sitzt, weitgehend unverletzt überlebt. Aber ihr Haus ist teilweise eingestürzt, und weil die Türe klemmte, musste sie von der Feuerwehr vom Balkon gerettet werden.

Das Beispiel von l'Aquila

Ebenfalls Unterschlupf in der Zeltstadt von Arquata gefunden hat der ehemalige Lehrer Bruno. Statt über die Horrornacht zu reden, bei der er sein Haus verloren hat, zeigt er auf die Trümmer dessen, was einst Arquata war. "Das spricht für sich." Der gefasst wirkende Senior betont, dass er viel Glück gehabt habe: "Ich lebe noch." Der Staat müsse der Bevölkerung nun mit aller Kraft zu Hilfe kommen, findet der ehemalige Lehrer. Doch er ist skeptisch: "Das Beispiel von L'Aquila, wo noch heute, sieben Jahre nach dem Erdbeben, viele Leute in Baracken leben, macht nicht gerade viel Mut." (Dominik Straub, 25.8.2016)