Der Findlay Market ist eines der historischen Wahrzeichen von Cincinnati.

Foto: Frank Herrmann

Die Vine Street liegt ebenfalls im gentrifizierten Teil des ehemaligen Problemviertels Over-the-Rhine.

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Greg Hardman möchte an die Tradition der "Bierbarone" von Over-the-Rhine anknüpfen.

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Jim Tarbell, einer der Retter des historischen Viertels, auch "Mister Cincinnati" genannt, ist sogar überlebensgroß in der Stadt verewigt.

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Jungunternehmer Dave Knox residiert ebenfalls im ehemaligen Problemviertel.

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Jim Tarbell zeichnet imaginäre Linien auf eine Tischplatte. "Hier eine Autobahn, dort eine Autobahn, und an den Fluss mussten sie unbedingt auch so ein Betonmonster klotzen", sagt er und erzählt von den Sünden der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre. Um ein Haar wäre auch Over-the-Rhine ein Opfer des Automobilwahns geworden. Pläne für eine vielspurige Schnellstraße quer durch das historische Viertel gab es bereits. "Es stand auf Messers Schneide", sagt Tarbell, der auf Beschluss des Rathauses einen Ehrentitel tragen darf – Mister Cincinnati.

Mister Cincinnati, blankpolierte Glatze, gestreifter Anzug und weißes Hemd, sitzt im Keller einer Brauerei und schickt voraus, dass er nicht langweilen wolle mit Geschichtsvorträgen. Dass sich sonst aber unmöglich verstehen lasse, worum es im Kern gehe bei der Rettung von Over-the-Rhine. Um die Irrwege und Exzesse amerikanischen Städtebaus, denen inzwischen Besinnung und Fehlerkorrektur folgen. "Beginnen wir also mit Dwight Eisenhower."

Verhängnisvolle Schneise

Der General, ab 1953 US-Präsident, war ein großer Autobahnfan. Unter seiner Ägide nahmen die USA den Bau eines dichten Netzes von Interstate-Highways in Angriff. Und Cincinnati wurde zum Knotenpunkt: Durch das West End, westlich an Over-the-Rhine grenzend, schlug man mit der I-75 eine Schneise, von der sich der Stadtteil nie wieder erholte. Tausende mussten ihre Wohnungen verlassen. Wer es sich leisten konnte, schildert Tarbell die Folgen, zog in die grünen, monotonen Vororte, die sich über die neuen Schnellstraßen nun viel leichter erreichen ließen.

Wer arm war, zog nach Over-the-Rhine, das im Laufe der Zeit zu einem Ghetto verkam. "Irgendwann haben wir eingesehen, dass wir eine ernsthafte Unterhaltung brauchen", sagt Tarbell, der Praktiker ohne Parteibindung, den die Bürger Cincinnatis mehrfach als Unabhängigen in die Stadtverwaltung wählten. "Irgendwann mussten wir anfangen, wirklich nachzudenken."

Das Ergebnis lässt sich an der Vine Street besichtigen, der Vorzeigestraße des restaurierten Bezirks. Dort besitzt Over-the-Rhine auf einmal, was es lange nicht hatte: urbanes Leben. Es gibt belgische Waffeln, italienische Pizzas und japanische Fleischbällchen, die Restaurants heißen Taste of Belgium, Venice on Vine, Quan Hapa.

Große Ketten wie Starbucks oder McDonald's bekommen hier keine Lizenz, es soll abwechslungsreich bleiben. In einem nach George Washington benannten Park sprudeln Fontänen, wo früher die Nadeln der Drogenjunkies lagen. Mittendrin ein Denkmal, das einen bärtigen Revolutionär zeigt. Friedrich Hecker, steht auf dem Sockel, sei zwar nie hier gewesen, dennoch hätten viele Bewohner Cincinnatis in ihm, dem nach Amerika emigrierten Achtundvierziger, einen Helden gesehen.

1848, das war die Zeit, in der die Stadt am Ohio River mit den Immigranten aus Irland, Deutschland und Österreich-Ungarn zur Boomtown wurde. Die Deutschen ließen sich nördlich vom Miami-Erie Canal nieder, der das Zentrum begrenzte. Liefen sie über die Kanalbrücken, überquerten sie den Rhein, spotteten die Alteingesessenen. Im Jahr 1900 lebten 45.000 Menschen in Over-the-Rhine, in der Neuen Welt waren damals nur die Mietskasernenviertel an der Lower East Side Manhattans dichter besiedelt.

Als die USA 1917 Deutschland und dann auch Österreich-Ungarn den Krieg erklärten, sollte möglichst nichts mehr an mitteleuropäische Wurzeln erinnern. Aus der Bremen Street wurde die Republic Street, aus der Vienna Street die Panama Street. Und nach Kriegsende trieb das Alkoholverbot der Prohibition die Brauereien, die den Ruf des Viertels ausmachten, reihenweise in den Ruin. 38 hatte es einmal in Cincinnati gegeben, 18 allein in Over-the-Rhine.

Vielleicht klingt es zu euphorisch, wenn Greg Hardman von der Wiedergeburt des Brauereibezirks spricht. Aber den Anfang hat er gemacht. Hardman, jahrelang US-Vertreter der Marke Warsteiner, hat eines der alten Brauhäuser aus dem Dornröschenschlaf geholt – die Christian Moerlein Brewing Company, einst gegründet von einem Einwanderer aus Oberfranken. "Wenn Sie so wollen, dann haben Sie hier einen modernen Bierbaron vor sich", gibt Hardman augenzwinkernd zum Besten. Die Bierbarone von Over-the-Rhine waren einmal weit über den Ohio River hinaus bekannt.

Trauriger Ruhm

Vor fünf Jahren bezog Dave Knox sein neues Büro, Vine Street Nr. 1313. Am dritten Tag ließ eine Kugel das Glas eines Fensters splittern, Knox war in einem Drogenbandenkrieg zwischen die Fronten geraten. "So was passiert, so ist das Leben", sagt er im Nachhinein über den Schreck. Das dreistöckige Gebäude mit steingrauer Fassade, das der Jungunternehmer zu einem Quartier für Tüftler ausbauen wollte, war vorher eine Kneipe gewesen.

"Ein Pony-Keg", sagt Knox, der in der Digitalsparte des Konsumgüterkonzerns Procter & Gamble arbeitete, bevor er sich selbstständig machte. "Denk an die übelste Spelunke, die du dir vorstellen kannst, dann weißt du, was ein Pony-Keg ist."

Bevor die Bautrupps anrückten, erinnert sich der 36-Jährige, hatte Over-the-Rhine den traurigen Ruhm erworben, das gefährlichste Großstadtpflaster des Landes zu sein. Gefährlicher noch als Compton, die Hochburg der Gangs von Los Angeles. Knox führt durch sterile Räume, die vollgestopft sind mit Sperrholzmöbeln und Computern. "The Brandery", so heißt das Haus, soll Start-up-Gründer zusammenbringen, damit nicht jeder für sich in irgendeiner Garage hockt.

Die Vine Street gilt als Vorzeigestraße des restaurierten Bezirks Over-the-Rhine.
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Tarbell ist auf seinem Ausflug in die Geschichte beim Jahr 2001 angelangt, dem Jahr der Talsohle. Als ein weißer Polizist einen unbewaffneten schwarzen Teenager erschoss, brachen in Over-the-Rhine schwere Unruhen aus. Für eine Weile stand zu befürchten, dass ganz Cincinnati auf die schiefe Bahn geraten könnte, was bereits Detroit in den Ruin rutschen ließ.

Künstler im Krisenviertel

Die Angst davor grassierte nicht zuletzt in den Chefetagen der Konzerne, deren Firmensitze in den Betonschluchten der Downtown lagen – Procter & Gamble, Macy's, Kroger. Tarbell lebte damals bereits in Over-the-Rhine, in seiner Sturm-und-Drang-Zeit hatte er einen Musikklub gegründet, in dem Neil Young und The Grateful Dead spielten.

Im Jahr des Tiefpunkts überzeugte er die lokale Künstlergemeinde, dass sich mit den Verwüstungen die letzte Chance bot, den verfallenden Bezirk zu retten – indem man sich dort niederließ. Zugleich begriffen die Unternehmenslenker, dass sie selbst aktiv werden mussten, weil sich sonst niemand finden würde, der das Krisenviertel neben ihren Bürotürmen sanierte. 2003 schufen sie die Cincinnati Center City Development Corporation, abgekürzt 3CDC. Die hat Over-the-Rhine seitdem praktisch aufgekauft.

Das Business-Konsortium lässt nicht nur Häuser renovieren oder neu bauen, es lässt auch den Müll abholen und Privatpatrouillen Streife laufen. Weil man der städtischen Müllabfuhr und der Polizei nicht vertraut? Anastasia Mileham, die Sprecherin von 3CDC, antwortet mit einem Euphemismus: "Wir nennen es erweiterte Dienstleistungen. Wir haben hier 400 Millionen Dollar reingesteckt, diese Investition wollen wir schützen."

Eine Vier-Zimmer-Eigentumswohnung an der Vine Street kostet mittlerweile 615.000 Dollar. Das lässt kritische Stimmen von einer Kunstwelt für die Betuchten besprechen. Von einem Inseldenken, das blind sei für die Probleme ringsum.

Bastion des Widerstands

Jenn Summers, Direktorin des Peaslee-Centers, eines Bildungszentrums für Geringverdiener, ist so eine Stimme. Um kundzutun, was ihre Klienten von der Gentrifizierung halten, hat sie Zettel an eine Wand geheftet. "Geld und Macht gewinnen immer." "Was ist noch mal aus der Hilfe für Arme geworden?"

Das Peaslee-Center versteht sich als Bastion des Widerstands, und die Lehrerin Summers plagt der Gedanke, dass Mittellose in der schmucken Enklave der Yuppies womöglich jedes Mitspracherecht verlieren. Wo Teenager Basketball spielten, spielen heute die neuen Bewohner im "Dog Park" mit ihren Hunden. "Wie kann man jemanden mit einem teuren Apartment dazu bringen, dass er für den Erhalt eines Basketballfelds kämpft? Es ist ein Kraftakt", sagt Summers.

Hätte man schon vor drei Jahrzehnten mit der Sanierung begonnen, würde die soziale Balance heute vielleicht eher stimmen, gibt Jim Tarbell zu bedenken. Die Bausubstanz wäre noch nicht so vergammelt gewesen, manche Familien hätten nicht wegziehen müssen. "Aber so? Wir waren doch am Punkt null angelangt." Ohne das Geld der Geschäftswelt, glaubt Tarbell, wäre nun mal nichts passiert. Nein, eine Ideallösung sei das sicher nicht, aber allemal besser, als Over-the-Rhine abzuschreiben. (Frank Herrmann aus Cincinnati, Ohio, 28.8.2016)