Vermisst in seiner SPÖ den Weitblick: Altlinker Bruno Aigner.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie waren einst als "Querdenker" in der SPÖ bekannt, mussten sich dann aber zwölf Jahre lang jede Kritik verkneifen ...

Aigner: ... weil ich mir als Pressesprecher von Bundespräsident Heinz Fischer selbst ein Schweigegelübde auferlegt habe.

STANDARD: Jetzt, wo Fischer in Pension ist, dürfen Sie wieder reden. Hat sich mit der Zeit viel Ärger über die eigene Partei angesammelt?

Aigner: Einiger. Mich ärgert, dass es der SPÖ nicht gelingt, Kopf und Hand zusammenzubringen: Die Partei hat sich von einer intellektuellen Diskussion über die Perspektiven der Gesellschaft weitgehend verabschiedet – von den Risiken des gläsernen Menschen bis zur Weiterentwicklung des Sozialstaats. Es gibt zwar angeblich eine Vorarbeit zu einem neuen Parteiprogramm, doch ich lese und höre nichts davon. Am schwersten wiegt aber das Versäumnis, dass die SPÖ ihre Homebase, die soziale Kompetenz, vernachlässigt – so wie andere sozialdemokratischen Parteien Europas auch. Die Seele der Sozialdemokratie ist aber das Soziale.

STANDARD: Inwiefern?

Aigner: Die Situation ist absurd: Laut einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam besitzen die 62 reichsten Menschen weltweit genauso viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – und die Schere geht immer weiter auseinander, auch in Österreich. Eigentlich müssten die Sozialdemokraten in Europa angesichts dieser Entwicklung in einer Blütezeit stehen. Doch während selbst ein amerikanischer Politiker wie Bernie Sanders den Begriff Sozialismus, der früher in den USA ein Schimpfwort war, in den Mund nimmt und damit eine große Anhängerschaft hinter sich schart, zogen etwa die deutschen Sozialdemokraten neoliberale "Reformen" à la Hartz IV durch. Da braucht sich die SPD nicht zu wundern, wenn sie in Umfragen bei 20 Prozent herumkrebst.

STANDARD: Den österreichischen Genossen kann man aber schwerlich vorwerfen, vom neoliberalen Virus angesteckt zu sein. Die SPÖ verteidigt den Sozialstaat, fordert Vermögenssteuern.

Aigner: Ja, aber die SPÖ muss dabei bestimmter auftreten und ihre soziale Kompetenz aktiv ins Spiel bringen. Die Menschen, besonders die benachteiligten, müssen spüren, dass du auf ihrer Seite bist. Denn sonst werden sie von den Rechtspopulisten geködert.

STANDARD: Ist es also – wie Sie vor Jahren schon befunden haben – nicht nur kalt geworden in der Partei, sondern auch kalt geblieben?

Aigner: Ich will nicht verallgemeinern. Der jahrelang von Medien niedergeschriebene Sozialminister Alois Stöger ist sicher einer, der Haltung zeigt. Aber zum Teil ist die Sozialdemokratie außer Sichtweite für ganz normale Menschen, sie hat Kontakt zur Bevölkerung eingebüßt, ist eine Partei der Beliebigkeit geworden. Die SPÖ verwaltet, manchmal gibt es dabei sogar Stillstand. Es reicht nicht, in Sonntagsreden immer wieder Vermögens- und Maschinensteuern zu verlangen. Das muss man schon auch von Montag bis Samstag durchziehen.

STANDARD: Das ist leichter gesagt als getan: Die SPÖ regiert nun einmal nicht allein, sondern in einer Koalition mit der ÖVP ...

Aigner: ... die bestimmte Forderungen ganz gezielt ablehnt, damit die SPÖ ja kein Profil zeigen kann. Da brauchen die Sozialdemokraten den Mut, auch einmal vor verschlossenen Türen zu stehen. Die SPÖ tut zu viel, um den Machtverlust zu vermeiden. Mir hat eine Andeutung des neuen Parteichefs Christian Kern gefallen: Es sei keine Schande, auch einmal in der Opposition zu landen – er hat auch Machtversessenheit kritisiert. Ich habe keine Angst vor dem Machtverlust.

STANDARD: Sie haben ja auch keine Macht zu verlieren.

Aigner: Das stimmt, ich habe natürlich leicht reden. Die SPÖ soll die Opposition auch nicht fahrlässig anstreben. Aber wenn eine unausweichliche Entscheidung zwischen Macht und Haltung ansteht, muss sie sich für Letzteres entscheiden. Die SPÖ darf sich nicht für die Macht verkaufen.

STANDARD: Die Folge wäre wohl eine Regierung aus FPÖ und ÖVP. Soll die SPÖ das in Kauf nehmen?

Aigner: Die Schäden durch eine blau-schwarze Koalition wären nicht absehbar, aber das Geschäft ist schnelllebig: Die SPÖ hat die Chance, in der Opposition wiederzuerstarken und zurückzukehren. Diese rot-schwarze Koalition, in der sich große Teile der beiden Parteien nicht mehr verstehen, droht auf längere Sicht auch dann zu Ende zu gehen, wenn sich die SPÖ an sie klammert. Nur könnte der Abstieg, wenn die Sozialdemokratie sämtliches Kapital verspielt hat, dramatisch sein.

STANDARD: Hat sich mit der Übernahme durch Kern in der SPÖ etwas zum Besseren gewendet?

Aigner: Er hat zumindest frischen Wind gebracht. Aber jetzt kommt die Zeit, in der er das, was er eloquent und glaubwürdig formuliert, umsetzen muss. Für ihn gilt, was Václav Havel einst in den Nachwehen der Samtenen Revolution in Osteuropa festgestellt hat: "Wir sind von der Poesie in die Prosa gekommen."

STANDARD: Auch unter Kern verschärft die Regierung die Flüchtlingspolitik weiter. Kann das einem Linken wie Ihnen gefallen?

Aigner: Nein. Ich verstehe die Hysterie der Regierung nicht: In welchem Dorf zwischen Vorarlberg und dem Burgenland herrscht schon Not? Trotzdem soll per Notverordnung das Asylrecht skelettiert werden – und die SPÖ macht mit.

STANDARD: Gibt es eine Alternative, um das Land mit dem Flüchtlingsandrang nicht zu überfordern?

Aigner: Ich habe auch kein Patentrezept, zumal es ja in Europa keine Solidarität gibt. Natürlich hat Österreich Kapazitätsgrenzen, aber es geht zu weit, die zivilisatorische Errungenschaft des Asylrechts auf null zu reduzieren. Die SPÖ muss endlich eines lernen: Immer wenn sie, bei den ersten Haider-Jahren angefangen, versucht hat, die FPÖ rechts zu überholen, hat sie nichts gewonnen. Derzeit findet fast ein Wettstreit statt, wer am weitesten rechts steht.

STANDARD: Was, wenn in Ihre einstige Arbeitsstätte jetzt mit Norbert Hofer ein Freiheitlicher einzieht?

Aigner: Das wäre schon ein Schmerz. Es braucht eine breite Bürgerinitiative, um Van der Bellen in die Hofburg zu bringen. Jeder, der Hofer wählt, muss sich über die Konsequenzen im Klaren sein: Es droht eine blaue Welle, die Strache ins Kanzleramt spült.

STANDARD: Wie ist das Leben ohne Heinz Fischer nach 40 gemeinsamen Jahren?

Aigner: Ich muss mich erst daran gewöhnen. Wir telefonieren aber regelmäßig: Ich erstatte ihm nach jedem Rapid-Spiel Bericht, und zuletzt hatte ich fast nur positive Nachrichten zu überbringen.

STANDARD: Sie tauchen bisweilen aber immer noch in der Präsidentschaftskanzlei auf.

Aigner: Ja, denn ich muss die 40 Jahre noch aufarbeiten. Im Keller der Hofburg lagern Umzugskartons mit Briefen, Reden und dergleichen, ich habe sie bereits von 40 Stück auf zehn reduziert. Doch leicht fällt mir das nicht: Ich bin ein Sammlertyp.

STANDARD: Kann es sein, dass Ihnen der Abschied von der Hofburg schwerer fällt als dem Ex-Präsidenten selbst?

Aigner: Das schließe ich nicht aus. (Gerald John, 29.8.2016)