Koen Lenaerts, Präsident des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg.

Fischer/Standard

Koen Lenaerts teilt die Analyse, dass die EU "in der schwersten Krise seit Jahrzehnten" stecke und ähnlich wie bei den Umbrüchen in Europa im Jahr 1989 gerade "viel auf dem Spiel" stehe. Dennoch sieht der Präsident des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus juristischer Sicht keinen Grund, in Pessimismus zu verfallen. Die Bewältigung der Eurokrise samt Klärung vieler gemeinschaftsrechtlicher Streitpunkte seit 2010 sei positives Beispiel dafür, dass die Union sich mit einer gewissen "Verfassungsmäßigkeit" weiterentwickle, erklärte Lenaerts im Gespräch mit dem STANDARD in Alpbach.

Dort hat der Belgier – seit Oktober im Chefsessel der Höchstrichter in Luxemburg – im Rahmen des Forums Alpbach vorgeführt, dass EU-Recht von der Gründung der Gemeinschaft an auf die Ausbildung einer politischen Union angelegt war. Der EuGH verfolge zwei Hauptaufgaben, sagt er. Er müsse das EU-Primärrecht schützen, in dem die Staaten vereinbart haben, wie und welche Kompetenzen sie aus der nationalen Ebene zur Union verlagern. Und es gelte dann, die Einhaltung des Unionsrechts in der Detailgesetzgebung der Länder zu gewährleisten, notfalls mit Sanktionen.

Sicherung der Grundrechte

Gemeinsam mit der EU-Charta für Grundrechte (im Vertrag von Lissabon 2009) werde damit die Gleichheit vor dem Recht gewährleistet. Das gelte nicht nur für alle Mitgliedsstaaten, sondern auch für die einzelnen Bürger, sichere diesen ihr Recht – auf einer höheren Instanz als in den Nationalstaaten: "Die Sicherung der Grundrechte ist unsere wichtigste Aufgabe." Dass in der Krise der Nationalismus erstarkt sei und viele Menschen die EU als unzulässige "Einmischung" ablehnten, sehe er als Problem: "Umso mehr müssen auch wir in der Vermittlung in der Öffentlichkeit verbessern", sagt Lenaerts. "Union und EuGH sind nicht der Gegner der Bürger, sondern eine zusätzliche Dimension zur nationalstaatlichen Gerichtsbarkeit."

Allerdings könnten die EU-Höchstrichter nur tätig werden, wenn es um die Umsetzung von Gemeinschaftsrecht gehe. Diesbezüglich habe es seit dem Maastricht-Vertrag 1991 in vielen gesellschaftlichen Bereichen, von Umweltpolitik bis zu Datenschutz und Sozialpolitik, große Fortschritte gegeben. Welche negativen Folgen "Lücken im System" hätten, zeige sich gerade im Streit um die Asyl- und Migrationspolitik: "Wenn es keine gemeinsame Regelung gibt, bleibt das auf der nationalen Ebene, dann zählt die Grundrechtecharta nicht."

Der EU-Austritt Großbritanniens könnte in der Substanz weniger spektakulär ausfallen als vermutet, meint der EuGH-Chef. Das Land habe "rein rechtlich" bereits jetzt eine Sonderrolle mit wichtigen Ausnahmeregelungen, nehme an Euro, Schengen und Innerer Sicherheit nicht teil: "Während der Verhandlungen wird sich erweisen müssen, inwieweit der Brexit nicht nur eine Reformation dieses Sonderwegs ist, der bereits besteht", so Lenaerts. Kurz: Großbritannien wäre zwar nicht mehr stimmberechtigtes EU-Mitglied, aber das enge Verhältnis zur Union würde sich sich nicht sehr vom Status quo unterscheiden. (Thomas Mayer, 30.8.2016)