Wien – Zwei Millionen. So viele Einwohner wird Wien im Jahr 2029 haben. Damit die Stadt gemeinsam mit ihren Bewohnern wachsen kann, bedarf es groß angelegter Infrastrukturprojekte. Bereits jetzt ist der Wohnungsmarkt angespannt, die Preise werden von der steigenden Nachfrage in die Höhe getrieben. Bis die Bundeshauptstadt 2034 um die Größe von Graz gewachsen sein wird, wird es vieler neuer Wohnmöglichkeiten bedürfen – Dachgeschoßausbauten werden bei diesen Zahlen freilich nicht reichen.

Wahlwiederholung im Zweiten

Eines der größten innerstädtischen Entwicklungsgebiete befindet sich mitten im beliebten und wachsenden zweiten Wiener Gemeindebezirk. Auf 75 Hektar erstreckt sich das Nordbahnviertel, und es wird eines der letzten Gebiete sein, die in einer derart zentralen Lage verbaut werden können. Auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs soll für 35.000 Menschen Wohnraum geschaffen werden, 20.000 Arbeitsplätze sollen hier entstehen. Der zweite Bezirk zählt mit über 100.000 Einwohnern bereits jetzt zu den bevölkerungsreichsten Wiens.

72.000 von ihnen dürfen in Kürze einem historischen Ereignis beiwohnen: Zum ersten Mal muss eine Bezirkswahl wiederholt werden, nachdem beim ersten Durchgang im Oktober 2015 vom Verfassungsgerichtshof formale Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden. Das Nordbahnviertel als Stadtentwicklungsgebiet, als große planerische Aufgabe für den Bezirk, spielt auch in der Wahlauseinandersetzung eine Rolle – so vermögen sowohl Rot als auch Grün dort ihre "typische Handschrift" zu erkennen. Beide luden getrennt voneinander zu einem Spaziergang durch das Viertel, der durchaus unterschiedlich ausfiel.

Der Rudolf-Bednar-Park wird flankiert von Wohnhäusern und einem großen Sportplatz.
Foto: Maria von Usslar

Der rote Weg

Der aktuelle Bezirksvorsteher Karlheinz Hora (SPÖ), der aller Wahrscheinlichkeit nach auf jener in spe sein wird, lud am Mittwochabend in das Gebäude der Gebietsbetreuung am Volkertmarkt, wo derzeit eine Ausstellung rund um die Geschichte des Viertels zu sehen ist. Aus dem Privatarchiv des pensionierten Eisenbahners Josef Klein wurde eine kleine Ausstellung gebastelt, die eine detaillierte Chronik der Entwicklung des Bahnareals abbildet.

Spaziert man vom Praterstern über die Walcherstraße, steht man kurze Zeit später direkt vor einem Baustellenareal, das später einmal den Austria Campus beherbergen wird. Dort wird die Bank Austria einige Gebäude besitzen – aber auch ein Hotel, einen Kindergarten und Gastronomiebetriebe soll es bis 2018 geben. Ein Holzturm bietet Besuchern die Möglichkeit, sich selbst ein Bild über den Baufortschritt zu machen: Dort kann man den Kränen und Mischmaschinen auch noch am Abend beim Werkeln zuschauen. Dreht man sich um, sieht man das Riesenrad.

Trödeln bei der Planung

Ginge es nach Hora, wäre hier schon früher etwas weitergegangen. Überhaupt könnte man im Viertel schon weiter sein, meint der Bezirksvorsteher. Das langsame Tempo bei den Flächenwidmungen, für die die grüne Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou zuständig ist, sei ein großes Problem gewesen. Dass Vassilakou das auch so sieht, dürfte bezweifelt werden: Es sei ein Best-Practice-Beispiel grüner Stadtpolitik, möglichst viele Bewohner in Entscheidungen miteinzubinden, sagt die Vekehrs-und Planungsstadträtin.

"Die freie Mitte" – eine grüne Fläche mitten in der Stadt.
Foto: Robert Newald

Ein paar Schritte weiter kreuzt man die Joseph-Roth-Gasse, die eigentlich Riesenradstraße hätte heißen sollen; das fand im Rathaus dann aber doch nicht so viel Anklang. Blickt man vom Austria Campus Richtung Millenium City, kann man die Bruno-Marek-Allee sehen, die die Hauptstraße des Geländes bilden wird. Eigentlich wollte man Personenkult auf den Straßenschildern möglichst vermeiden, erzählt Hora. Ein paar Kompromisse scheint es diesbezüglich trotzdem gegeben zu haben.

Ein paar Meter weiter erreicht man schon den Rudolf-Bednar-Park, der ein sogenannter "Designerpark" ist. Er grenzt an eine Greißlerei und ein Bio-Café, die sich bereits dort niedergelassen haben. Steht man dort, erinnert das Flair an die junge Seestadt in Aspern.

Die grüne Wildnis

Die Bio-Cafés bilden gleichzeitig den Endpunkt der roten Tour und den Startpunkt der grünen Safari. Während Hora hier seine Gefolgschaft noch aufs Wählengehen einschwört, hat die grüne Spitzenkandidatin für die Leopoldstadt, Uschi Lichtenegger, mit Unterstützung der Vizebürgermeisterin am Tag zuvor eine Handvoll Medienvertreter in die sogenannte "freie Mitte" geführt.

Alte Eisenbahnschienen erinnern an die alte Funktion des Geländes.
Foto: Robert Newald

Der noch unbebaute Bereich in Richtung Brigittenau wird nördlich durch die Innstraße begrenzt und soll weitestgehend unberührt bleiben – eine "städtische Wildnis" soll hier entstehen. Geht man jetzt über das Gelände, vergisst man schnell, dass man sich immer noch mitten in der Stadt befindet. Rund um einen alten Wasserturm stolpert man über Bahngleise durch Gestrüpp und Wiese. Eine der ältesten Eisenbahnbrücken Österreichs befindet sich auf dem zwölf Hektar großen Freiraum. Dazwischen liegt der noch völlig unberührte DIY-Skatepark, über den es in den letzten Monaten heftige Kontroversen gab.

Tiefgaragen statt Cafés

Vassilakou zeichnet ein Bild des Geländes, wie es aussehen würde, wenn die Blauen im Bezirk mehr zu sagen hätten: Statt Bio-Cafés würden Tiefgarageneinfahrten entstehen, statt der Wildnis eine Betonlandschaft. Nur 21 Stimmen haben Grün und Blau beim ersten Wahldurchgang getrennt. Dass die Grünen den zweiten Platz behalten können, ist also nicht ausgemacht. "Es geht um eine Entscheidung zwischen Freiraum und dem Krankreden eines Bezirks", spielt Lichtenegger auf die Brachialrhetorik der Blauen an. Der Druck auf Randgruppen würde unter erstarkten Blauen steigen, meint die Spitzenkandidatin – wiewohl man für einen Laib Brot im hiesigen Bio-Café an die sieben Euro hinlegen muss.

Die alte Eisenbahnbrücke wird nicht abgerissen werden, sondern der Gstetten erhalten bleiben.
Foto: Robert Newald

Wenn man von Bezirksvorsteher Hora wissen möchte, ob vielleicht im Sinne der Koalition besprochen wurde, die Führung durch das Viertel gemeinsam zu machen, gelingt ihm nur ein müdes Lächeln. Es sei immerhin Wahlkampf, außerdem habe er vom grünen Sightseeing nur aus der Zeitung erfahren. Auch Vassilakou hat schon beim grünen Wahlkampfauftakt verlauten lassen, dass Hora nicht ihr größter Fan sei, wobei sie ein Grinsen nicht verbergen konnte. Was den Zugang zum Nordbahnviertel betrifft, haben sich die beiden jedenfalls, wenn auch unfreiwillig, auf den Punkt genau ergänzt. (Vanessa Gaigg, 1.9.2016)