Wien – Wenn der Tag zur Neige geht, kommen die Farben. Violette Streifen durchbrechen den Himmel, das blassgraue Wasser verwandelt sich unter der beleuchteten Donaubrücke in sattes Blau, man sieht Reflektionen von Gelb, Gold und Orange, die funkelnden Lichter der Stadt (später dann: candyfarbene Neonschilder, rötliche Bar-Illuminationen und aufflackernde Handydisplays). Erst wenn das Licht an ist, treten sie auf: die Brüder der Nacht, junge bulgarische Roma, die sich als Stricherjungen in Wien ihr Geld verdienen. Das Licht ist in Patric Chihas Dokumentarfilm nicht nur atmosphärischer Verstärker, sondern Bühnenbeleuchtung und Schein in nicht nur allegorischem Sinn. Denn Brüder der Nacht nähert sich seinen Protagonisten nicht mit den Mitteln des Milieurealismus, sondern mit Theatralität, Künstlichkeit und Spiel.

Rauch, trinken, tanzen, reden: Die jungen bulgarischen Männer, die als Stricher in Wien gelandet sind, werden auf Patrick Chihas Illusionsbühne zu Akteuren und zu Brüdern der Nacht.
Foto: stadtkino

Sie heißen Stefan, Yanko, Asen, Nikolay und Vassili. Die präzise ins Bild gerückten, sich selbst darstellenden Stricher – die Szenen wurden im Laufe eines Jahres gemeinsam erarbeitet – sind jung, zwischen 16 und Anfang 20, sie nennen sich "Bruder", fast alle sind heterosexuell (oder definieren sich so), in der Heimat verheiratet und Väter. Eigentlich suchten sie nur einen "normalen" Job, aber den gab es nicht für sie. Gerüchte machten die Runde, man könne "mit den Schwulen Geld verdienen". So landeten sie in einem Café im Arbeiterbezirk Margareten, in einem etwas aus der Zeit gefallenen Stricherlokal, mit Holzvertäfelung, Samtvorhängen und Billardtischen. Ihre Kunden sind vorwiegend alte Männer.

Radikaler Gegenentwurf

Er wollte keinen Film über die Stricher machen, sondern mit ihnen, heißt es in einem Statement zu Brüder der Nacht. Damit wendet Chia ein Zitat von Douglas Sirk auf seine eigene Arbeit an, das wiederum Fassbinder zitierte. Von beiden, Fassbinder und Sirk, ist viel in den Film eingeflossen: die sorgfältige Raumkomposition, die Theatralität, die Spiegelungen. Vieles erinnert auch an Kenneth Anger (eine bestimmte Form übertrieben maskuliner Körperlichkeit, die glühenden Farben). Die offensichtlichste Vorlage aber ist Fassbinders Genet-Adaption Querelle. So zeigt der Film seine Protagonisten nicht nur im wirklichkeitsentrückten Setting des Cafés, sondern in leeren Bars, Diskotheken und unter Donaubrücken, die in blaues, rotes und pinkfarbenes Licht getaucht sind.

In schwere Lederjacken gekleidet, mal in Matrosenshirt und mit Kapitänsmütze, das gegelte Haar glänzend, sieht man sie rauchen, trinken, tanzen und reden: über ihre Ankunft in Wien, die ersten Freier, über Preise und Dienstleistungen, ihre zurückgelassenen Frauen, die Kinder. Dabei rückt Chiha die schönen Gesichter seiner Figuren oft in posterhafte Close-ups, mehr noch aber gilt sein Interesse ihrer ebenso zärtlichen wie wilden Körperlichkeit, den Posen und Blicken – und ihrer Gemeinschaft, dem Kollektivkörper.

Edition Salzgeber

Die Form bewegt sich dabei fließend zwischen Dokumentation und homoerotischem Traum – auch Spielarten des Reenactment deuten sich an. Ein Echo findet die Selbstdarstellung der Stricher auf ihren Smartphonefotos, die immer wieder, auch in der Gruppe, betrachtet werden: Posen mit Zigarette, mit Geldscheinen in der Hand, neben fremden und eigenen Autos (die inzwischen verkauft werden mussten, das Geschäft läuft schlecht).

Brüder der Nacht antwortet Elendserzählungen und ihren Viktimisierungstendenzen mit einem – nicht nur ästhetisch – radikalen Gegenentwurf. Ein kurzer Blick in ein überfülltes schäbiges Zimmer genügt, um sich ein Bild vom "anderen" Alltag der Stricher zu machen. Auf Chihas Illusionsbühne werden sie zu Erzählern und Akteuren schrecklich-schöner Außenseitergeschichten, deren Regeln allzu oft von anderen geschrieben werden. (Esther Buss, 5.9.2016)