Sol Gabetta mit Cello.

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Grafenegg – "Welt Flucht" lautet das Motto der Musiktheatertage Wien, die zur Zeit im Werk X in Meidling stattfinden. Und auch ein sommerlicher Konzertbesuch in Grafenegg birgt immer ein Moment des Eskapismus in sich. Man gelangt aus der Enge der Stadt in die Weite der Felder, inmitten derer man ein Schloss vorfindet, irreal und klischeehaft wie von Walt Disneys Zeichnern entworfen. Der umfriedete Park, der es umgibt, ist ein wenig Garten Eden, ist Hortus musicus und Schlaraffenland: Klang- und Weintankstellen versprechen eine umfassende seelisch-körperliche Labung. Probleme aller Art sind vor Konzertbesuch an der Garderobe abzugeben.

Hat man dies getan, harren renommierte Orchester auf der Bühne des Wolkenturms darauf, sich feucht-kühler niederösterreichischer Spätsommerabendluft auszusetzen und in Wettstreit mit einem Klangkollektiv einheimischer Grillen zu treten. Am Freitagabend spielte das Königliche Concertgebouworchester beim Klassiker Kunst gegen Natur auf, die Truppe aus Amsterdam wurde angeführt von Daniele Gatti.

Entspant, beglückend und zart

Der 54-jährige Mailänder ist ein Dirigent von entspannter, herzenswarmer Ausstrahlung, der hochwachen Sinnes agiert und jedes Detail der Stimmverläufe im Ohr hat. Dieser feingliedrige Esprit etwa von Webers Oberon-Ouvertüre: beglückend. Und auch bei Robert Schumanns Cellokonzert musizierten die Amsterdamer mit kammerspielartiger, lichter Zartheit, trugen die prinzessinnenhafte Sol Gabetta wie auf Händen.

Die Cello-Solistin steigerte sich im Verlauf des Werks zusehends, öffnete sich und fand zu großer, berührender emotionaler Intensität, zu kämpferischem Geist und interpretatorischer Freiheit. Ideal passte auch die Zugabe zum Ort des Konzerts: Mit einer Cellogruppe des Concertgebouworchesters interpretierte die Argentinierin den Song of the Birds von Pablo Casals. Fantastisch, dass die Akustik des Wolkenturms – sie scheint in ihrer knalligen dynamischen Potenz glücklicherweise etwas beschnitten worden zu sein – auch solche klanglichen Filigranarbeiten erlaubt.

Bruckners vierte Symphonie gab der Feinarbeiter Gatti dann ohne jede Kraftmeierei, zelebrierte sie regelrecht, detailverliebt bis über beide Ohren. Bei aller akustischen Transparenz ertappte man sich dabei, wie man sich von Zeit zu Zeit nach dem umfassenden, überwältigenden Surroundsound eines Konzertsaals sehnte: Bruckner ohne satten Nachhall, das ist ein wenig wie alkoholfreies Bier. Begeisterung für die Gäste aus Amsterdam; die Grafenegger Grillen blieben unbedankt. (Stefan Ender, 4.9.2016)