Ömer Çelik erteilte den Europäern "Lektionen zur Demokratie": Sein Land kämpfe gegen IS-Terroristen, aber EU-Minister wollten über Menschenrechte reden.

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Glaubt man offiziellen Verlautbarungen aus höchsten EU-Kreisen, wird es bei der Einführung der Visafreiheit für die Türkei keinerlei Zugeständnisse geben. Insgesamt 72 Bedingungen sind es in diesem Fall, wobei fünf noch unerledigt sind: insbesondere die politisch heiklen Materien Datenschutz und Gesetze zum Kampf gegen den Terror. Die Ukraine, Georgien und der Kosovo, die ebenfalls auf der Visaliste der Union stehen, sind dabei schon etwas weiter.

Diese Sichtweise der EU-Partner wurde auch beim informellen EU-Außenministertreffen in Bratislava am Wochenende zum Ausdruck gebracht, zumindest öffentlich: Außenbeauftragte Federica Mogherini, der Deutsche Frank-Walter Steinmeier oder der Österreicher Sebastian Kurz betonten diese beschlossene Linie.

Nicht die erste Verschiebung

Da auch das Europaparlament in die Entscheidung eingebunden ist und sich auf ein Nein festgelegt hat, sollte die Türkei sich nicht an grundrechtliche EU-Standards halten (auch beim EU-Türkeipakt, Beitrittsverhandlungen und im Umgang mit Oppositionellen), gab es auch keinen Grund, etwas anderes zu beschließen.

Dennoch könnte das Treffen eine Wende gebracht haben. Ursprünglich hätte die Visafreiheit bereits ab 1. Juli gelten sollen, sie war an den EU-Türkei-Pakt zur Migration geknüpft, der den Stopp der illegalen Wanderung in der Ägäis, die Rücknahme der Migranten vorsieht. Dann kam der Putschversuch Mitte Juli, die Festnahme zehntausender Türken dazwischen, die Präsident Tayyip Erdogan pauschal als Terroristen verdächtigt. Seither herrscht Eiszeit, die Türkei droht der EU ständig mit der Aufkündigung des Migrationspaktes, sollte die Visasache nicht bis Oktober gelöst sein.

IS, Gülen und PKK

Der türkische Europaminister Ömer Çelik betonte vor den EU-Außenministern zwar, dass es derzeit keinerlei Änderung der Gesetze zur Bekämpfung von Terroristen "aus Gründen nationaler Sicherheit" geben werde. Er führte den IS, Gülen und die PKK in einem Atemzug als Terroristen an.

Dennoch war es ausgerechnet Çelik, der in einer Pressekonferenz öffentlich machte, dass ein EU-Deal vorbereitet wird: Wenn man sich bis Jahresende "im Prinzip" auf die Visafreiheit einige und Ankara die Möglichkeit erhalte, die Antiterrorgesetze später so anzupassen wie von der EU erwünscht – "wenn die Lage im Land wieder stabiler" sei – dann könnte es eine Einigung geben. Von den EU-Ministern bestätigte kein Einziger offiziell diese mögliche Lösung. Umso mehr machten einige im Hintergrund deutlich, dass es in der Union "eine gewisse Verzweiflung" gebe, was das Verhältnis zur Türkei betreffe.

"Wir hätten sie auch gleich umbringen können"

Çelik "schockte" seine Kollegen mit "Demokratiebeweisen" à la: "Wir hätten die Putschisten gleich umbringen können, übergaben sie aber der Justiz." Einerseits tue Erdogan inakzeptable Dinge, gleichzeitig brauche man die Türkei dringend bei der Lösung vieler Konflikte, von Syrien bis Migration, hieß es in EU-Kreisen.

Auch deshalb enthielt sich Mogherini im Namen der Union jeglicher Kritik an Ankara. Man wolle "wieder mehr miteinander als übereinander reden", sagte sie; alle Vereinbarungen blieben aufrecht. Nicht zuletzt deshalb blieb Außenminister Kurz mit der österreichischen Initiative, die EU-Beitrittsverhandlungen zu stoppen, völlig allein. Insgeheim, so bestätigten mehrere Delegationen, würden sich aber viele Länder für einen härteren Kurs aussprechen.

Entspannung zeichnet sich auch um das Besuchsrecht von deutschen Abgeordneten bei Bundeswehrsoldaten auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik ab: Nach einem Gespräch mit Erdogan beim G20-Gipfel in China sagte Kanzlerin Angela Merkel, sie gehe davon aus, dass das Besuchsverbot in Kürze aufgehoben wird. (Thomas Mayer aus Bratislava, 4.9.2016)