Wien – Ceta ist ein Monster. 1.600 Seiten lang ist das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada. Für jeden Artikel, der eine Regel aufstellt, gibt es einen anderen mit der passenden Ausnahmebestimmung. Selbst wer ein Kapitel liest, ist danach nicht unbedingt schlauer. Denn in Ceta wird auf Dutzende andere internationale Abkommen verwiesen.
Angesichts dieser Komplexität ist es nicht verwunderlich, dass in Ceta fast alles hineininterpretiert wird. der STANDARD hat die Diskussionen der vergangenen Wochen zum Anlass genommen, um einen kleinen Wegweiser für die aktuelle Debatte zu erstellen.
Mythos 1: Mit Ceta werden staatliche Dienstleistungen privatisiert
Kanzler Christian Kern warnt, dass Ceta eine Liberalisierung und Privatisierung bei sozialem Wohnbau, Abfall- und Abwasserentsorgung bringen könnte. NGOs wie Attac orten den Ausverkauf von kommunalen Dienstleistungen. Doch Ceta liefert für diese Behauptungen wenig Grundlage.
Das Abkommen legt fest, dass kanadische Dienstleister freien Zugang zum EU-Markt bekommen müssen. Kanadische Investoren dürfen nicht schlechter behandelt werden als inländische Geldgeber. Doch öffentliche Dienstleistungen sind davon explizit ausgenommen, wenn sie nicht zu kommerziellen Zwecken und nicht im Wettbewerb mit Privaten erbracht werden. Schulen und Spitäler zum Beispiel müssen nicht liberalisiert werden. Auch kommunale Dienste wie die Abwasserentsorgung sind damit einer Marktöffnung entzogen. Für die Abwasserentsorgung zahlen die Bürger zwar Abgaben, doch die kommunalen Einrichtungen arbeiten nicht gewinnorientiert, sondern zielen bloß auf Kostendeckung ab.
Um diese Bestimmungen abzusichern, findet sich in Ceta ein Hinweis darauf, dass kanadische Unternehmen auch dort keinen Marktzugang bekommen, wo Private Dienstleistungen im öffentlichen Auftrag ausführen. Ein Beispiel dafür wären Gemeinden, die mit der Müllentsorgung ein Unternehmen beauftragen – das dürfen sie weiterhin tun. Ceta ermächtigt Staaten auch weiterhin, kanadische Unternehmen bei der Vergabe von Subventionen zu diskriminieren. Der soziale Wohnbau bleibt damit erlaubt, weil staatliche Zuwendungen an Bauträger gedeckt sind.
Post und Bahn sind von der Liberalisierung ebenso ausgenommen wie Sozialversicherungen und Pensionskassen. Richtig liegen Kritiker, wenn sie sagen, dass manche Bestimmungen Raum für Interpretationen geben. So gibt es für den Begriff "nichtkommerzielle" Dienstleistungen bisher keine gültige Definition im internationalen Handelsrecht.
Mythos 2: Unternehmen werden auf dem Klagsweg Regulierung wegbringen
Ein gern vorgebrachtes Argument lautet, dass selbst, wenn Ceta nicht direkt staatliche Monopole aufbricht, dies die Unternehmen später auf dem Klagsweg erledigen werden. In Ceta gibt es ein eigenes Kapitel bezüglich des Investorenschutzes, ein Handelsgericht soll etabliert werden. In einer Studie der Arbeiterkammer heißt es, kanadische Firmen könnten die Ceta-Investitionsgerichte nutzen, um gegen Gesetze vorzugehen. Als Beispiel wird die Mietpreisbremse angeführt, über die in Österreich diskutiert wird. Eine solche Bremse würde zu einem Einnahmenentgang führen. Ein kanadisches Immobilienunternehmen könnte sich also theoretisch an ein Ceta-Gericht wenden und eine indirekte Enteignung behaupten.
Doch dabei wird vergessen, dass der Investorenschutz in Freihandelsabkommen nur vor einer Diskriminierung schützt. Österreich kann also eine Mietbremse einführen, unrechtmäßig wäre dies laut Ceta bloß, wenn die Bremse nur für kanadische Vermieter gilt. Klagt ein Investor erfolgreich, gebührt ihm eine Entschädigung. Ein Recht auf Gesetzesänderung gibt es generell nicht.
Mythos 3: Ceta kann nicht mehr nachverhandelt werden
Wer bei Ceta Nachbesserungen fordert, um Unschärfen (etwa zu kommerziellen Dienstleistungen) zu präzisieren, bekommt von der zuständigen EU-Kommission zu hören, da sei nichts zu machen. Das Abkommen sei mit Kanada fertig ausverhandelt. Dieses Argument ist nachweisbar falsch. Die EU und Kanada haben Ceta nämlich bereits einmal aufgeschnürt.
Das Verhandlungsende wurde im Herbst 2014 verkündet. Danach gab es Kritik an den Ceta-Schiedsgerichten. Die EU-Kommission argumentierte, man müsse mit dem Ergebnis leben. Doch im Februar 2016 einigten sich Kanadier und Europäer auf ein neues Kapital zum Investorenschutz in Ceta – statt Schiedsverfahren soll ein Handelsgericht kommen.
SPD-Politiker in Deutschland wie Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel drängen erneut auf Ceta-Nachbesserungen. Der Brexit bedeutet ohnehin, dass Ceta geändert werden muss. Derzeit ist Großbritannien als EU-Land Vertragspartei, was es in dieser Form nicht bleiben kann. Der amtierende kanadische Premier Justin Trudeau hat schließlich Ceta von seinem konservativen Vorgänger geerbt. Es ist unklar, warum er bei einem guten EU-Angebot nicht gesprächsbereit sein sollte. (András Szigetvari, 5.9.2016)